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Arne Naess - Wir müssen unsere Fürsorge ausdehnen

Geseko von Lüpke, aus dem Buch "Politik des Herzens"

Im Gespräch mit dem Öko-Philosophen Arne Naess

 

Brauchen wir eine Öko-Philosophie?


Die ökologische Wissenschaft allein ist nicht geeignet, uns klare Verhaltensregeln für unseren Umgang mit der Natur zu geben. Ökologie kann uns interessante Daten über die Zahl der Gattungen im Ozean geben. Ökosophie aber kann Normen und Regeln aufstellen, baut auf ethische Überlegungen und nimmt politisch Stellung. Ökosophie wird in der Regel als ökologische Weisheit übersetzt. Mir selbst ist der Begriff der Klugheit lieber. Die ganzheitliche Sicht, die von uns angesichts der ökologischen Krise gefordert wird, ist keine eindimensionale Sache. Wir brauchen viele Ökosophien. Ökosophie ist und bleibt eine persönliche Angelegenheit, selbst wenn Millionen von Menschen sich mit ähnlichen Werten und Normen identifizieren können. An ökologischem Wissen über das was zu tun ist, fehlt es uns nicht. An Ökosophie schon.

Sie gelten als einer der Väter der Tiefenökologie. Was sind die ethischen Überlegungen und politischen Positionen dieses Ansatzes?


Der erste Punkt postuliert, dass jedes Lebewesen einen eigenen Wert besitzt, der unabhängig ist von seinem Nutzen für den Menschen. Zweitens meinen wir, dass auch der Reichtum an Vielfalt, also an Lebewesen verschiedener Art in sich wertvoll ist. Der dritter Punkt lautet: Menschen haben nicht das Recht, in den Reichtum und die Vielfalt von Lebensformen mehr einzugreifen, als es ihre unmittelbaren Bedürfnisse fordern. Viertens: Es wäre besser für uns und alle anderen Lebensformen, wenn es weniger Menschen gibt. Fünftens stellen wir fest, dass der menschliche Eingriff in Ökosysteme zu groß ist und reduziert werden muss. Der sechste Punkt ist die konsequente Forderung nach einer Gesellschaftsveränderung auf allen Ebenen, um die oben genannten Forderungen zu verwirklichen. Siebtens muss sich alles gesellschaftliche Handeln an einer hohen Lebensqualität orientieren und nicht länger an einem hohen Lebensstandard. Achtens meinen wir, dass jeder, der den vorangegangenen Punkten zustimmt, verpflichtet ist zu versuchen, die existierenden Verhältnisse zu verändern.

Das sind doch alles Punkte, auf die sich doch eigentlich ein Großteil der Menschen einigen könnten?


Es ist tatsächlich ganz merkwürdig, wie viele Menschen ehrlich sagen können: „Ja, das kann ich unterschreiben!“ Aber wenn es ans Wählen geht, dann entscheiden sie sich für die alten Politiker – und nicht für etwas ganz neues. Aber ich glaube tief in der Seele der Menschen gibt es eine Sehnsucht, die diesen Prämissen entspricht. Noch aber kommt es nicht an die Oberfläche des politischen und sozialen Verhaltens

Was ist das ‚tiefe’ an die Tiefenökologie?


Die Förderer der tiefenökologische Bewegung sagen, die Gestaltung einer nachhaltigen Welt ist nicht nur eine Frage der umweltfreundlichen Technik und der möglichst nachhaltigen Ökonomie, sondern es ist auch eine Frage der Lebens- und Weltanschauung. Diejenigen, die die tiefenökologische Bewegung unterstützen, haben eine Lebens- und Weltanschauung, die ganz anders sind, als jene, die sich in den letzten 300 bis 400 Jahren in der Welt mehr und mehr beherrscht. Die Prämissen und Fragen sind tiefer. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht nicht Frage der Nützlichkeit für den Menschen. Wir stellen statt dessen die Frage: Was ist ein Leben, dass würdig für Menschen ist. Wir stellen solche Fragen, weil wir doch im Inneren so tief mit Natur zusammenhängen, dass wir nicht Natur zerstören können, ohne uns selbst zu zerstören. Wenn wir mit diesen tiefsten Frage anfangen, dann verändert sich die Schwerpunkte und Prioritäten.

Man könnte meinen, dass im Begriff der ‚Tiefenökologie’ automatisch eine Wertung liegt, nach der andere ökologische Ansätze weniger Wert sind ...


Es kann durchaus sinnvoll sein zwischen ‚tiefer’ und ‚oberflächlicher’ Ökologie zu unterscheiden, wenn wir uns mit den wirklich existentiellen Fragen auseinandersetzen. Aber das muss trotzdem kein Gegensatz sein. Mir geht es darum, die konventionelle, also politisch reformatorische Ökologie mit der Tiefenökologie zusammenbringen. Denn es gibt Menschen, die wirklich sehr viel auf diesem konventionellen Gebiet machen, um ökologische Probleme zu lösen. Und sie fragen sich dabei nicht: „Was sind unsere Ziele im Leben? Was ist für mich persönlich das Wichtigste?“ Davon unterscheiden sich diejenigen, die sich Tiefenökologen nennen. Sie finden: Es ist destruktiv für ihr Selbst, was jetzt geschieht. Sie empfinden: Um ein sinnvolles Leben hier auf diesem Planeten zu leben, müssen wir uns verändern. Sie haben das existentiell gefühlt und haben daher eine spezielle Rolle in der Bewegung. Aber sie agieren zusammen mit denjenigen, die nur an den wissenschaftlichen Fragen interessiert sind oder nur versuchen zu reparieren. Denn das ist natürlich sehr wichtig. Die Unterstützer der tiefenökologischen Bewegung arbeiten zusammen mit denjenigen, die sagen: „Ach nein, diese philosophischen und religiösen Sachen - das ist nicht wichtig.“ Und ich wiederhole: Sie machen ja sehr viele wichtige Sachen.

Trotzdem scheint die Tiefenökologie mehr zu sein, als nur ein neuer philosophischer Ansatz ...


Tiefenökologie ist mit Sicherheit keine Philosophie. Wenn man zeitgenössischen Philosophen nach dem Verhältnis zwischen philosophischer Theorie und Lebenspraxis fragt, dann lachen sie in der Regel und sagen: „Meine alltäglichen Entscheidungen haben nichts mit meinen akademischen Überlegungen zu tun.“ Aber darum geht es ja gerade: Wir brauchen Menschen, die für etwas einstehen und sagen: „Ich lebe meine tiefsten Überzeugungen und wünsche, dass andere das auch tun!“ So eine Haltung meine ich, wenn ich von der ‚totalen Sichtweise’ spreche. Das hat nichts mit ‚Totalitarismus’ zu tun. Was ich damit meine, ist das Zusammenspiel von tiefen Grundwerten und dem Umgang mit der Welt. Wenn das funktioniert, dann wirken die Grundwerte in die alltägliche Lebenspraxis mit all ihren vielen Entscheidungen hinein. Das ist es, was man Ganzheitlichkeit nennen kann. Die Unterstützer der tiefenökologischen Ideen haben einen solche ‚totale Sichtweise’, selbst wenn sie schwierig zu artikulieren ist. Sie leben sie mehr, als von ihr zu sprechen. Und darin unterscheiden sie sich von Vertretern einer oberflächlichen Ökologie, die sagen: „All das braucht es nicht! Wir haben praktische Dinge zu tun!“ Da liegt der Unterschied.

Sie erwähnten gerade dass es neben dem philosophischen auch einen religiösen Aspekt dieses Ansatzes gibt. Kann aus einer solchen Mischung nicht schnell eine Ideologie oder ein ökologischer Fundamentalismus entstehen?


Es gibt keine ‚Tiefenökologen’, es gibt nur Förderer dieses Ansatzes. Und es gibt keine tiefenökologische Ideologie. Viele, die nach diesen Ideen leben, haben noch nie vom Begriff der ‚Tiefenökologie’ gehört. Du kannst Christ sein und sagen: Gott existiert, und was Gott erschaffen hat, hat Wert in sich - also hat jedes Lebewesen einen Eigenwert. Du kannst ebenso gut Buddhist sein oder irgendeiner Philosophie der Selbstverwirklichung folgen und den tiefenökologischen Ansatz unterstützen. Es geht ja nicht um eine neue ökologische Einfalt. Um in der Zukunft eine große Vielfalt unterschiedlicher grüner Kulturen zu erschaffen - und diese Vielfalt ist wichtig für die weitere Entwicklung des Menschen - sollten wir uns lediglich auf eine gemeinsame Norm einigen: nämlich das wir unsere Konflikte gewaltlos lösen.

Versteht sich die tiefenökologische Bewegung als spirituelle Bewegung?


Ich benutzte den Ausdruck ‚spirituell’ nicht so gerne. Ich glaube, die Menschen bauen ihre Grundwerte immer auf philosophische oder philosophische Überzeugungen. Von spirituellen Werten mag man sprechen, wenn es um den Sinn des Lebens geht. Deshalb würde ich sagen: Förderer der tiefenökologischen Idee haben sowohl eine spirituelle wie eine nicht-spirituelle Botschaft. Einige äußern sich so, als wäre die spirituelle am wichtigsten, andere betonen die politisch-sozialen Aspekte und dritte sprechen die ganze Zeit schlicht über die Schönheit der Natur. Der Fokus kann unterschiedlich sein. Und wenn sich manche Leute an der langen Front auf eine Thematik spezialisieren, dann sollten wir tolerant sein und nicht versuchen, sie auf unsere Seite herüberzuziehen.

Aber viele der Grundgedanken finden sich doch auch in den religiösen Traditionen der Welt?


Da gibt es Wurzeln, die sind 1000 Jahre alt und Haltungen, die gehen zurück bis in die Eiszeit. All das ist absolut nichts neues, nein, nein. Es geht um Fürsorge, eine Art erweiterter Anteilnahme, nicht die Intensität der Sorge, sondern ihre Ausdehnung. Wir haben Respekt vor jedem menschlichen Wesen. Jetzt wenden wir uns nicht-menschlichen Wesen zu. Und wenn wir unser Fürsorge ausdehnen bedeutet das natürlich nicht, sich weniger um Menschen zu kümmern.

Wobei man genau das der Tiefenökologie immer wieder vorgeworfen hat: Das sie einer Ameise oder einem Raubtier den gleichen Wert gibt, wie einem Menschen ....


Ich glaube nicht, dass dieser Vorwurf auf die tiefenökologische Bewegung zutrifft. Denn es ist doch ohne Zweifel so: Was immer wir über die ökologische Krise denken oder sagen, werden uns andere Menschen immer wichtiger sein als alles andere. Wenn eins unserer Kinder wegen eines Tiers in Gefahr ist, dann würden dieses Tier töten, um unser Kind zu schützen. Wir würden auch den letzten Tiger auf Erden töten, wenn wir damit unser Kind vor dem Verhungern retten könnten. Ich glaube, das hat gar nichts mit Ökologie zu tun. Wenn es zu so einem ‚Ökologismus’ kommt, dann werden einzelne Werte verabsolutiert. Das brauchen wir nicht. Ich bin auch davon überzeugt, dass die meisten notwendigen Grundwerte intuitiv entstehen und die ethischen Maßstäbe eher im zwischenmenschlichen Bereich entstehen, als in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur.

Sie sprachen eben von der ‚Ausdehnung unser Anteilnahme für nicht-menschliche Wesen’. Bedeutet das ein größeres Mitgefühl aus der Perspektive des Menschen oder ein neues Verständnis des menschlichen Selbst?


Ich habe zu dieser Frage den Begriff des ‚ökologischen Selbst’ geprägt. Schon die aristotelische Philosophie spricht vom ‚sozialen Selbst’ und will damit sagen, dass wir nie nur reine Egos sind. Wir dürfen unser Ego nicht als etwas begrenztes sehen, das strikt unterschieden werden muss vom sozialen Selbst oder jenem noch viel größeren Selbst, dass ich das ‚ökologische Selbst’ nenne. Es gibt viele Leute, die sich von der fantastischen Natur ihres Selbst nichts wissen wollen. Ich sage ihnen immer: „Ihr seid viel größer als ihr glaubt!“. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Potentiale und unsere Einzigartigkeit enorm zu unterschätzen.

Wir verläuft die Erweiterung unseres Selbstbildes?


Schon in unseren ersten Lebensjahren begreifen wir, dass die Welt aus mehr als nur Mutter und Vater besteht. Da gibt es Spielsachen und Tiere, mit denen wir sind. Ich verstehe das ‚ökologische Selbst’ als eine Ausdehnung des ‚sozialen Selbst’. Ich bin der Überzeugung, dass das Selbst mehr ist als das persönliche Ego. Es hat auch eine geographische Komponente. Da mag ein Beispiel hilfreich sein. Als sich Mitglieder vom Volk der ‚Samen’, die man in Deutschland ‚Lappen’ nennt, auf einer Demonstration einen ihre Flüsse mit einer Blockade vor der Verschmutzung bewahren wollten und von der Polizei weggetragen wurde, rief einer von ihnen aus: „Dieser Fluss ist ein Teil von mir!“ Und genau diese Ausdehnung unseres Selbst macht tiefen Sinn. Ich glaube wir durchlaufen als Menschen eine Entwicklung, in der wir beginnend mit dem Moment der Geburt den Radius unser Selbst immer mehr ausweiten. Das kann bis zu einem Maß gehen, wo wir uns auch mit anderen Lebewesen identifizieren können. Wenn man sich aus so einer Haltung heraus ökologisch verhält, dann bezeichne ich das auch als ‚Selbstverwirklichung’. Denn das Engagement entsteht aus unserer erweiterten Natur.

Eine Veränderung des Selbstbildes mit radikalen, wenn nicht sogar revolutionären Folgen ...


Revolutionär werden diese Ideen, wenn sie soziale und politische Macht gewinnen. Das Wort „revolutionär“ passt, denn diese Ideen wenden sich gegen vieles von dem, was in den letzen vierhundert Jahren westliche Politik und soziales Verhalten bestimmte.

Stimmen die alten Kategorien von ‚revolutionär’ und ‚evolutionär’, von ‚links’ und ‚rechts’, von ‚konservativ’ und ‚progressiv’ da überhaupt noch?


Wir haben eine anti-bürokratische und eine antizentralistische Haltung und damit konservative Ideale, sorgen uns aber nicht nur um menschliches, sondern auch um nicht-menschliches Leben. Aber wir stehen auch ein für Forderungen, die wir aus sozialistischen Bewegungen kennen. Andererseits würden wir sicher den freien Markt beibehalten, dies aber mit einer weitgehenden Möglichkeit für die Regierungen, in den Markt einzugreifen. Aber wir brauchen die Vielfalt. Sicher ist eine gewisse Zentralisierung unumgänglich, aber sie darf nicht nur über den Weltmarkt laufen. Wenn der globale Markt bestimmt wo es lang geht, dann verlieren wir die kulturellen Unterschiede auf dem Planeten. Also muss der Schwerpunkt auf der Dezentralisierung und der Wahrung der Unterschiede liegen. Wenn wir diese Krise überstehen, dann wird das einzig grundlegende gemeinsame Merkmal grüner Gesellschaften darin bestehen, dass sie langfristig ökologisch lebensfähig sind. Unter ‚grünen Gesellschaften’ verstehe ich soziale Gemeinschaften, die das Problem von Krieg und Frieden ebenso gelöst haben wie das Problem sozialer Ungerechtigkeit. An einer solchen Zukunft arbeiten die Friedensbewegung, die unterschiedlichen sozialen Bewegungen inklusive die Frauenbewegung und die Umweltbewegung. Denn ‚grüne Gesellschaften’ müssen nicht nur ökologisch nachhaltig sein, sondern auch sozial und politisch.

In der Auflistung der acht Grundgedanken der Tiefenökologie erwähnten sie auch die Position, dass wir uns um einen Rückgang der Überbevölkerung kümmern müssen. Auch das ist den Tiefenökologen vorgeworfen worden: Dass sie nichts gegen Katastrophen hätte, weil sie die Zahl der Menschen reduziere.


Das ist völliger Unsinn. Denn das Problem der Überbevölkerung ist primär das Problem der reichen Länder. Dieses Problem ist untrennbar damit verbunden, dass eine kleine Minderheit von vielleicht 500 Millionen Menschen in den reichen Ländern so viel vom Planeten Erde zerstört hat, dass den Menschen der Dritten Welt kein Vorwurf daraus gemacht werden kann, wenn sie auf die Not mit mehr Geburten reagieren. Die Lösung des Problems der Überbevölkerung wird Hunderte von Jahren in Anspruch nehmen, weil es ethisch gelöst werden muss. Sicherlich müssen wir uns mit mehr Verantwortung ethische Fragen stellen, wenn wir neues Leben in die Welt setzen.

Ist die Tiefenökologie in ihrer Betonung des inneren Wertes allen Lebens ein Feind von moderner Technik?


Wir sollten Technologie erster nehmen, anstatt sie abzulehnen! Denn es geht darum Technologie so weiter zu entwickeln, dass sie uns kulturell und ökologisch nützt. Das Problem ist nicht die Technik an sich, sondern ihre Form und Anwendung. Man kann zehn technische Revolutionen haben, ohne dass das irgendeinen Einfluss auf die ökologische Krise hat, weil der Weg von der Erfindung bis zur praktischen Anwendung so unendlich lang ist, wenn es an der politischen Unterstützung fehlt. Darum müssen wir uns kümmern. In den grünen Gesellschaften der Zukunft werden wir mindestens genauso viel Technologie brauchen wie heute. ‚Technologie’ darf kein negativer Begriff werden. Wir brauchen Menschen, die sich für Technologie interessieren. Aber eben für eine Technologie, welche die soziale und ökologische Dimension berücksichtigt.

Kann der tiefenökologische Ansatz jemals wirklich mehrheitsfähig werden?


Ich glaube, es wäre unrealistisch, mit so etwas zu rechnen. Aber was bedeutet Mehrheit? Auch beim Kampf gegen die Sklaverei war nur eine Minderheit wirklich aktiv. Wenn eine Minderheit wirklich überzeugt und aktiv für etwas einsteht, dann kann die Mehrheit auch so reagieren, dass sie sagt „Die haben irgendwie recht“ und sie nicht bekämpft. So wird das auch bei der ökologischen Krise sein. Eine Minderheit wird auf die Zerstörungen hinweisen und die Gefahren für uns Menschen aufzeigen. Man wird ihnen nicht wirklich glauben, aber ihr Einfluss wird zunehmen und zu neuen politischen Initiativen führen. Die Mehrheit wird sagen, da ist was dran. Zur Zeit heißt es noch: „Das ist doch alles nicht nötig, eure Voraussagen sind viel zu pessimistisch.“ Aber sie erinnern sich an das, was wir sagen und bekämpfen uns weniger hartnäckig. Und das ist erst mal genug. Die Zeit für einen tiefen Wandel wird kommen, da habe ich keine Zweifel.

Sind sie selber also eher ein Optimist, als ein Pessimist?


Ich glaube, dass die Situation noch sehr viel ärger werden muss, ehe man etwas wirklich Wichtiges macht. Im nächsten Jahrhundert werden vielleicht noch größere Zerstörungen sein. Wenn man mich fragt, ob ich Optimist oder Pessimist bin, sage ich: Ich bin ein großer Optimist – aber erst für das 22. Jahrhundert. Für das 21. Jahrhundert bin ich pessimistisch, denn zur Zeit werden wir immer weniger nachhaltig. Auch wenn ich für das 21. Jahrhundert große Probleme auf uns zukommen sehe, halte ich nichts von diesen Untergangs-Szenarien. Wir müssen uns klar sein über die Folgen unseres Tun’s und die Kosten des Wandels begreifen. Wir sollten heute und morgen dafür arbeiten. Denn je mehr wir das tun, desto weniger Ärger haben wir im 21 Jahrhundert. Aus diesem Grund versteht sich die tiefenökologische Bewegung auch als eine langfristige Bewegung. Wir zielen nicht auf kurzfristige schnelle Lösungen. Das verringert einerseits den Druck, unter den wir uns stellen, andererseits ist es natürlich schwierig, das politisch umzusetzen. Denn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zielt auf die nächsten Paar Jahre.

Heißt das, wir müssen in ganz anderen Zeitdimensionen denken und planen?


Ich denke, es ist eine fantastische Perspektive, in großen Zeiträumen denken zu können. Warum sollten wir nicht davon ausgehen, dass wir Millionen von Jahren vor uns haben und die heutige Zeit der Zerstörung nur einige Hundert Jahre betrifft. Ich bin mir sicher, dass wir langfristig unsere Gehirne weit positiver nutzen werden, als in der Gegenwart. Ich selbst werde vielleicht für eine kurze Zeit als einer von denen erinnert werden, die einen solchen langfristigen Ansatz begründeten. Aber insgesamt wird unser Zeitalter einmal nur als eine Ära der Barbarei erinnert werden, in der man jeden Wal, der im Meer herumschwamm, töten dürfte, solange man die Gattung nicht ausrottete. Ich stelle mir für die ferne Zukunft einen natürlichen Reichtum und eine biologische Vielfalt vor, in der Seeleute aufpassen müssen, dass ihr Schiff nicht mit einem Wal kollidiert, weil die Meere voll sind mit ihnen.

Wie kommen wir zu dem Punkt, wo aus Wissen um die notwenige Veränderung die Weisheit der Praxis wird.


Wissen wird nicht leicht zu Weisheit. Weisheit hat eher mit Motivation zu tun. Wenn wir anerkennen, dass wir mit der gegenwärtigen Situation auf dem Planeten unzufrieden sind, dann steht es an, den Schritt von der wissenden Beschreibung zu klaren Richtlinien zu machen, die nicht länger nur deskriptiv sind, sondern klar normativ. Die uns sagen, was wir zu tun haben – jedem von uns, aber auch unserer Gemeinde, unserem Land, unserem Planeten.

Einer ihrer Ratschläge ist es, radikale Fragen zu stellen. In wie fern muss das Fragen heute radikaler sein, als in den herkömmlichen Philosophien?


Es geht nicht um neue Denkansätze im Rahmen des alten Weltbilds, sondern um eine neue Sichtweise auf die Welt. Wir können nicht einzelne Techniken kritisieren, wir müssen die Art unser modernen Gesellschaften in Frage stellen. Eine der Punkte, auf den die Tiefenökologie fordert, ist, statt dem Lebensstandard die Lebensqualität zu verbessern. Was wir Lebensstandard nennen, wird davon bestimmt, was wir haben, aber nicht an dem, was wir sind und was wir fühlen. Um auf diese Ebene zu kommen, müssen wir Fragen stellen, die bis an die Grundlage des Menschseins gehen. Wir müssen neu nach dem Sinn unseres Lebens fragen. Wir müssen herausfinden, mit welchen möglichst einfachen Methoden wir sowohl unsere Grundbedürfnisse, als auch unsere Bedürfnisse nach Luxus befriedigen können. Die Dimensionen der ökologischen Krise, die wir überwinden müssen, sind so groß, dass wir sie durchaus mit einem Kriegszustand vergleichen können. So eine Krise verlangt eine hohe Bereitschaft zur Kooperation, sie verlangt eine neue Hierarchie der Werte. Über kurz oder lang betrifft das jeden. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht neu, die stellt sich jeder von Zeit zu Zeit. Neu ist der Ansatz, diese tiefen Fragen im Zusammenhang mit der ökologischen Krise zu stellen. Das ist etwas komplett neues und überraschendes. Und es wird einige Zeit dauern, bis jeder begreift, dass diese Fragen kaum weniger wichtig und kaum weniger persönlich sind, als die Frage, ob wir heiraten wollen und ob wir Kinder in die Welt setzen wollen.

Also ist ökologisches Engagement gleichzeitig eine Frage der persönlichen wie der kollektiven Entwicklung?


Es passiert nur in Beziehung. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könnte sich in sein Kämmerchen zurückziehen und etwas nur aus dem eigenen Ego heraus weiterzuentwickeln. Dieser ganze Ansatz beruht auf einem Feld-Denken. Dieses Feld hat viele verschiedene Dimensionen. Der einzelne Mensch ähnelt in diesem Feld nur einem kleinen Knoten in einem großen Netz. Im großen Feld ist er eine Unregelmäßigkeit, eine konzentrierte Ansammlung einiger weniger Beziehungsstrukturen. Die Besonderheit besteht darin, dass auf der menschlichen Ebene die Maschen dieses Netzes kleiner sind. Wir sind nichts absolutes, sondern in Beziehung zu allem anderen. Wenn unsere Selbstverwirklichung weiter gehen soll, müssen wir das anerkennen. Die Wahrscheinlichkeit, frustriert an eigene Grenzen zu stoßen oder die Identität zu verlieren, ist viel größer, wenn wir uns für absolut und halten. Das Identitätsproblem des modernen Menschen hängt damit zusammen, dass unsere Gemeinschaften in so einem schlechten Zustand sind. Dabei geht es nicht darum, unsere Identität in einem ganzheitlichen mystischen Brei zu verlieren. Das hat mit Tiefenökologie nichts zu tun. Sie sind einzigartig, ich bin einzigartig und wir werden auch dann einzigartig bleiben, wenn wir uns mit anderen Lebensformen identifizieren. Eine größere Identifikation führt keinesfalls dazu, dass wir unsere individuelle Persönlichkeit verlieren.

Geht eine Identifikation mit anderen Lebensformen über das Mitgefühl mit ihnen heraus?


Identifikation geht dem Mitgefühl voraus! Mitgefühl kann man nur empfinden, wenn man sich vorher mit etwas identifiziert. Nehmen wir eine Klassengesellschaft: Wenn man beigebracht bekommen hat, die niedrigere Klasse nicht als Teil der Menschheitsfamilie zu sehen, dann fehlt es uns an Identifikation. Wenn man ein Tier im Todeskampf beobachtet und sei es nur ein Insekt, dass mit den Beinen zappelt, dann kann man dabei sich selbst im Moment einer tödlichen Gefahr sehen. Wenn man sich auf diese Weise identifiziert, wird man automatisch bemüht sein, dem Tier zu helfen. Das nenne ich Identifikation. Um Solidarität, diesen so wichtigen Begriff im Sozialismus, zu wecken, muss man den anderen als gleichwertige Peson sehen können. Solidarität verlangt also Identifikation. Das ist für mich der Kernbegriff. Manche Leute sehen das anders. Sie reden von Mitgefühl oder Empathie. Heute geht es darum den Menschen, jung wie alt, dabei zu helfen, ihre Empathie zu entwickeln. Wenn wir den Sprung vom Mitgefühl zur Aktion schaffen, dann ist viel erreicht. Wenn man mitfühlt, ohne ins Handeln zu kommen, dann führt das in die Depression. Die tiefenökologische Bewegung will den Menschen dabei helfen, aus dem Gefühl der Depression angesichts der Verhältnisse zu Mitgefühl und Aktion zu kommen. Dann wird aus Traurigkeit Freude.

Wie also sollten wir mit schlechten Nachrichten und den viel zu langsamen Veränderungen umgehen? Wie kann Engagement von Freude getragen sein?


Wir müssen aufhören uns vorzustellen, dass der Holocaust und die ökologische Katastrophe gleich hinter der nächsten Ecke lauert. Viele Leute argumentieren immer noch so. Es kann durchaus sein, dass wir das 21. Jahrhundert ohne den großen Zusammenbruch durchstehen, auch wenn sich die Gesamtlage immer weiter verschlechtert. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir es im 22.Jahrhundert schaffen, immer weniger zerstörerisch zu werden. Aber auch im 21. Jahrhundert können wir in jedem Moment Freude empfinden. Wenn wir aufhören, ständig nur zu beschreiben, was alles verkehrt läuft und statt artikulieren, was wir in unserem kleinen Horizont alles tun – klein im Verhältnis zum ganzen System – dann empfinden wir Freude und genießen den Austausch. Tausende von Seiten mit schlechten Nachrichten werden täglich veröffentlicht. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für all das, was schon an Gutem passiert. Wir dürfen nicht jeden kleinen Schritt immer nur am großen Ziel messen. Selbst wenn die Auswirkung mikroskopisch ist, müssen wir uns gut dabei fühlen. Förderer der tiefenökologischen Bewegung sollten immer aus einer Haltung der Freude handeln.

Was ist also der nächste Schritt? Persönliche Weiterentwicklung oder politische Aktion?


Für manche ist es dies, für andere das. Die Front, an der wir kämpfen, ist lang. An manchen Abschnitten kann man vielleicht nicht dabei sein, ohne sich persönlich oder spirituell weiterzuentwickeln. Aber es gibt so viele Abschnitte, wo man unmittelbar handeln kann, ohne zu versuchen ein anderer zu sein, als der, der man ist, oder ein besserer Mensch mit besserer Moral. Der nächste Schritt hängt immer davon ab, wo man gerade steht. Und jeder hat seine Qualifikationen. Man sollte seinen Neigungen folgen und tun, was sich insgesamt gut anfühlt, anstatt angestrengt zu versuchen moralisch oder politisch ‚korrekt’ zu sein