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James Lovelock - Die Erde ist ein lebender Organismus

In den letzten vierhundert Jahren hat uns die Naturwissenschaft ein Weltbild präsentiert, dass die Erde als einen toten Gesteinsbrocken zeigt, auf dem zufällig Leben entstanden ist, dass wie eine große Maschine funktioniert. Wie ist demgegenüber ihr Bild der Erde?


Für mich ist die Erde ein wunderbarer und außerordentlicher Planet, der sich enorm von seinen Brüdern und Schwestern im Sonnensystem unterscheidet. Er inspirierte mich, fast ein ganzes Leben an ihm zu forschen. Das System Erde, ich nenne es Gaia, ist vergleichbar mit einem lebenden Organismus. Ob es nun lebendig ist oder nicht hängt davon ab, wie man den Begriff Leben definiert. Sicher ist: Das System Erde reguliert seine Temperatur selbst, es regelt die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre selbst und tut all das auf eine Art und Weise, die dem Leben auf ihm einen angenehmen Platz bietet.

Wie funktioniert der Organismus Erde aus Ihrer Sicht?


Ich sehe die Erde oder Gaia folgendermaßen: Sie ist ein sich selbst regulierendes System, das sich kurz nach der Entstehung des Lebens gebildet hat. Passiert ist das wohl folgendermaßen: Wenn sich Organismen auf einem Planeten entwickeln und sich zahlenmäßig stark verbreiten, dann verändern sie - ob sie das wollen oder nicht - die Zusammensetzung der Atmosphäre, des Bodens und des Wassers. Indem sie das tun, verändern sie ihre Umwelt, das Klima, eigentlich alles. Und dann muss sich das Leben diesen veränderten Bedingungen anpassen. Lebewesen aller Art passen sich also nicht an eine tote Welt an, sondern an eine Welt, die ihre Vorfahren gerade erst gemacht haben.
Und auf diese Art entstehen große Rückkopplungsschleifen und Feedbacksysteme die entweder dazu führen, dass das ganze System zusammenbricht oder aber sich bei einer für das Leben angenehmen Temperatur stabilisiert. Wir hatten das Glück, dass das frühe System, das ich Gaia nenne, ein stabiles Gleichgewicht gefunden und erhalten hat und uns bis heute eine angenehme Umwelt bietet.

Können Sie ein Beispiel für den Aufbau von solchen großen Rückkopplungsschleifen nennen?


Ein schönes Beispiel sind die völlig unscheinbaren Blaualgen in den Meeren, die ganz wesentlich an der Regulierung des Wetters, des Weltklimas und der Nährstoffe im Boden beteiligt sind. Das war nicht von Anfang an so. Immer sind es kleine Schritte, die aufeinander aufbauen und irgendwann ein komplettes System ergeben. Begonnen haben wird es so: Weil Meeresalgen sich vor Salz schützen mussten, produzierten sie eine Substanz namens Dimethylsulfid, die nach ihrem Tod in die Atmosphäre gelangt, zu Schwefel und anderen Säuren oxidiert und winzige Tropfen bildet. Diese Schwefelnebel tun zweierlei. Sie werden über Land getrieben und versorgen die Pflanzen mit fehlendem Schwefel. Außerdem sind sie entscheidend für die Bildung von Wolken. Diese Wolken führen einerseits dazu, dass das Sonnenlicht reflektiert wird, das Meer sich abkühlt und so das Algenwachstum bremst. Gleichzeitig transportieren die Wolken den Schwefel zu den Kontinenten, wo sie abregnen und der Schwefel den Boden anreichert. Die Organismen, die im Ozean leben, wissen von all dem nichts. Was sie aber mitbekommen, ist, dass ihr zufälliges Produkt auf dem Festland das Pflanzenwachstum anregt, was mehr organisches Material in die Flüsse bringt und somit die Algen im Meer besser versorgt. Und schon ist eine weitere Rückkopplung da, die sowohl den Landpflanzen, als auch den Meeresalgen nutzt. Das ganze ist eine eng verknüpfte sich selbst regulierende Einheit. Sie funktioniert wie ein Prozess - das meine ich, wenn ich von der Evolution einer lebendigen Erde spreche. Es ist absurd, sich vorzustellen, dass sich alles unabhängig von einander entwickelt hat. Das ist ebenso absurd wie die Vorstellung, dass sich in unserem Körper die Knochen und das Skelett unabhängig vom Fleisch entwickeln könnte. Das geht nicht, denn es ist eins. Genauso ist es mit der Erde.

Die klassische Naturwissenschaft spricht von der Evolution des Lebens. Sie sprechen von der Evolution des Planeten. Wie muss man sich das vorstellen?


In der Urwelt des Archaikums hätten wir nicht leben können. Es gab keinen Sauerstoff, wir hätten keine Sekunde überlebt. Aber für die damals lebenden Organismen waren diese Verhältnisse gut und richtig. Das planetare System veränderte sich seitdem ständig selbst und wird sich weiter verändern, wenn wir schon längst wieder verschwunden sind. Ich glaube, es ist sehr wichtig anzuerkennen, dass diese Erde, an die wir uns während unserer Entwicklung angepasst haben, keine tote, leblose anorganische Erde ist, mit Steinen, Luft und Ozeanen als ihren leblosen Teilen. Sondern das wir uns vielmehr an den Atem, an das Blut und die Knochen unser Vorfahren anpassen. Das wäre die richtige Art, die Luft, die Meere und das Gestein wahrzunehmen.

Können Sie diesen Prozess, in dem das Leben selbst schrittweise die Voraussetzungen für seine Weiterentwicklung schafft, näher erklären?


Über die Details der Anfangsbedingungen können wir nur spekulieren. Aber wir wissen ziemlich sicher, dass die Erdatmosphäre wie auf dem Mars oder der Venus primär aus Kohlendioxid bestand. Dadurch entstand so etwas wie ein früher Treibhauseffekt, der die Erde warm hielt, das Wasser auf dem Planeten aufheizte und die Voraussetzung für die Entstehung ersten bakteriellen Lebens schuf. Dieses erste Leben ernährte sich vom Kohlendioxid der Atmosphäre und fraß sie nach und nach auf. Als sich die Erde daraufhin abkühlte und das frühe Leben gefährdete, entstanden andere Lebewesen, die wieder Kohlendioxid in die Atmosphäre gaben und das Gleichgewicht stabilisierten. Durch die Photosynthese der frühen Lebewesen füllte sich der Himmel mit Sauerstoff, der wiederum das Leben riskierte. Darauf hin entstanden Lebewesen, die den Sauerstoff nutzten. Außerdem führte der höhere Sauerstoffgehalt zur Oxidation der Gesteine, aus denen Mineralien herausgewaschen wurden, die für den Aufbau komplexer Lebewesen gebraucht wurden. Immer entstanden also aus Krisen neue Möglichkeiten. Das ging bis heute so weiter.

Wenn aus Krisen immer wieder neues entsteht, spricht das für eine große Selbstheilungskraft des Systems Erde ...


Tatsächlich ist die enorme Fähigkeit, sich von ernsten Krisen zu erholen, einer der interessantesten Fähigkeiten von Gaia. Es gab seit dem Beginn des Lebens nicht weniger als 30 solcher lebensgefährlichen Katastrophen. Jede davon hat bis zu 70 % der damals existierenden Lebewesen getötet, manchmal starben sogar 90 %. Also stehen wir einem System gegenüber, dass sich nicht nur selbst reguliert, sondern sich auch selbst heilt.

Heißt das, wir brauchen eine neue Definition von „Krise“?


Ja, ich glaube, wir müssen den Begriff der Krise auf zwei Arten sehen. Einmal als einen menschlichen Begriff, einen Begriff menschlicher Zivilisationen. Und wir müssen Krise als einen Zustand des planetaren Lebensprozesses und seiner Zukunft verstehen. Die Bedürfnisse dieser beiden organischen Systeme stehen fast im Gegensatz zueinander. Was gut für den Planeten sein mag, dürfte manchmal recht ekelhaft für die menschlichen Zivilisationen sein und umgekehrt. Das ist ein tiefer Konflikt. Und ich hoffe - auch wenn ich es in meiner Lebensspanne nicht mehr erwarte - dass wir es schaffen, eine Art des Umgangs mit dem Planeten zu finden, wo dieser Konflikt gelöst werden kann. Aber wenn ich mir die Hoffnungslosigkeit unserer Versuche anschaue mit uns selbst, geschweige denn mit dem Planeten zu leben, dann bin ich da nicht sehr optimistisch. Ich tendiere deshalb zu der Sichtweise, dass wir als Zivilisation, ebenso wie Gaia, mit so einer Krise konfrontiert werden. Menschen sind eine zähe Spezies, ebenso wie der Planet ein zäher Organismus ist. Und es wird überall viele Menschen geben, die so eine Krise überleben, was auch immer passiert. Und die Zivilisation wird wieder ganz von vorne anfangen müssen.

Wenn wir uns die Erde als einen großen Organismus vorstellen, liegt dann nicht auch der Schluss nahe, dass dieses Lebewesen auch ein eigenes Bewusstsein hat?


Es ist ein völlig unbewusster Prozess. Auch der Mensch reguliert seine Temperatur nicht durchs denken. Der Körper tut es unbewusst und automatisch auf eine Art, die der von Gaia sehr ähnlich ist. Man sollte es sich nicht so vorstellen, als seien es die Organismen oder das Leben selbst, die den ganzen Planeten regulieren. So ist es nicht. Es ist das ganze System, das sich selbst im Gleichgewicht hält - das ist was ganz anderes. Es ist ein sich entwickelndes System, in dem alle lebenden Organismen - von der Bakterie bis zu uns Menschen - unbewusst mit einer sich ebenso entwickelnden Umwelt kooperieren, also mit dem Gestein, der Luft und den Ozeanen. Wenn die meisten Organismen in einer Kooperation mit dem planetaren System leben, dann machen sie das nicht mit bewusster Absicht oder weil das Universum es ihnen eingegeben hätte. Die Grundregel ist viel rücksichtsloser: Organismen, die das Spiel der Kooperation und wechselseitigen Anpassung nicht mitspielen, sterben aus. Die Organismen, die die meisten Nachkommen hinterlassen, sind erfolgreich. Der einzigen Unterschied, den Gaia macht, lautet: Jeder Organismus, der die Umwelt für seine Nachkommen verbessert, wird aufblühen, während jene Organismen, die dabei versagen und sie verschmutzen oder zerstören, aussterben werden. Das ist eine große Warnung an uns, denn im Moment gehören wir Menschen eher zur zweiten Kategorie als zur ersten.
Die alte griechische Gottheit Gaia und interessanterweise auch die Hindu-Göttin Kali hatten die gleichen Charakteristika: Sie waren weibliche, freundliche und nährende Göttinnen, aber wer gegen die Regeln verstieß, wurde eliminiert. Und es ist interessant, dass die wissenschaftlichen Regeln der Gaia-Theorie den uralten Regeln dieser Göttinnen so ähnlich sind. Vielleicht war mein Freund, der Schriftsteller William Golding vorausahnender als er dachte, als er für die Theorie über einem planetaren Organismus den Namen „Gaia“ vorschlug.

Wenn die Natur - so wie sie das in ihrer Theorie beschreiben - von selbstregulierenden Prozessen und Autopoesie charakterisiert werden, was bedeutet das für unsere sozialen Systeme und unsere Gesellschaften?


Da geraten wir schnell aufs Glatteis. Genau wie es im letzten Jahrhundert passiert ist, als ein Paar politisch engagierte Leute Darwins Sichtweise annahmen und daraus den Sozialdarwinismus formten. Sie beschrieben die Natur als ein gebrauchsfertiges Regelwerk, dass es den Unternehmern erlaubte, skrupellos und ohne Rücksicht auf Konsequenzen zu handeln, weil die Natur angeblich skrupellos und rücksichtslos sei. Ich glaube, wenn man das Gleiche mit der Gaia-Theorie macht, dann kommt man zu so unsinnigen Aussagen, dass es ganz egal sei, wie viel Müll wir in die Gegend werfen, weil der sich selbst regulierende Planet es schon wieder aufräumen wird. Doch so arbeitet das System nicht. Gaia, das organische System Erde, ist nicht da, um unseren Müll aufzuräumen. Wir sind ein Teil von Gaia, ein Teil des Ganzen und können uns nicht davon abtrennen. Was wir tun, wird im wesentlichen auf uns und auf unsere Zivilisationen zurückfallen, viel mehr als auf das große System selbst. Man darf nicht vergessen, dass Gaia, dieser langsam entstandene planetare Organismus, im Wesentlichen vom Zusammenspiel der Mikroorganismen gesteuert wird. Die großen Dingen wie Wale oder Bäume spielen da kaum eine Rolle. Alle wir komplexeren Organismen sind die jüngsten Entwicklungen der letzten 600 Millionen Jahre. Das große System wurde und wird durch Bakterien am Leben erhalten.

Sie vertreten da ein Konzept, dass sehr an den Stolz des Menschen geht. Wir haben da ja schon einiges aushalten müssen. Die Wissenschaft hat uns gesagt, dass wir nicht mehr der Mittelpunkt des Universums sind, und unser eigenes Bewusstsein kaum kennen. Und jetzt sagen sie, jede Bakterie ist für die Erde wichtiger als wir. Können das die Menschen akzeptieren?


Ich glaube, ein Minimum an Stolz brauchen wir als Stütze. Wir brauchen das Gefühl, einen Platz in der Ordnung der Dinge zu haben. Sonst wären wir verloren, allein im Universum, sinnlos, ein furchtbarer kosmischer Witz. So sehe ich uns ganz und gar nicht. Wir sind Organismen in diesem großen Ding namens Gaia und müssen uns für unsere Taten verantworten. Also ist es umgekehrt sogar so, dass Gaia uns etwas bietet, was uns die Wissenschaft entzogen hat. Nämlich eine Art größeres Sein außerhalb von uns, dass uns das Gefühl gibt, zu etwas zu gehören. Uns ein Gefühl gibt für gut und schlecht, dass die Wissenschaft uns fast entzogen hat. Wenn also durch den zu großen wissenschaftlichen Erfolg die herkömmliche Religion verdrängt wurde, dann könnte Gaia aus der postmodernen Wissenschaft etwas sein, was diese Lücke ausfüllt.

Wenn wir uns als Teile eines Superorganismus namens Gaia sehen, kann trotzdem schnell ein Gefühl der eigenen Nichtigkeit entstehen ...


Die Existenz von Gaia ist zwar nicht von den einzelnen Organismen abhängig, aber die Evolution als ganzes geht immer vom einzelnen Lebewesen aus und wirkt auf das Ganze. Es ist nie das ganze, was sich verändert, sondern immer das Individuum. Das ist genau der Punkt, wo sich Reduktionismus und Ganzheitlichkeit berühren. Der Reduktionismus beschäftigt sich mit dem Verhalten und der Wirkung von Individuen, der Einzelelemente und Zellen. Der Holismus beschäftigt sich mit dem Prozess des Ganzen, dem Zusammenspiel der Teile miteinander und mit der Umwelt.

Also sehen sie keinen Widerspruch zwischen ganzheitlichem und reduktionistischem Denken.


Auf gar keinen Fall gibt es da einen Widerspruch. Wir brauchen sie beide, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Wir sind da nur menschlich, wenn wir uns zwischen den beiden Ansätzen hin- und herbewegen. Im 18. Jahrhundert war unsere Wissenschaft ganzheitlich, jetzt ist sie primär reduktionistisch, aber wir sind wieder auf dem Weg in eine holistische Phase. Es wäre schön, wenn wir beides zusammenbringen könnten, aber ich glaube wir tendieren dazu, hin- und herzuspringen. Ich glaube, dass es gar nicht schwer ist, reduktionistische und ganzheitliche Wissenschaft zusammenzubringen. Es ist vielmehr völlig natürlich.

Können sie ein Beispiel für den Ansatz nennen, der vom Ganzen ausgeht?


Probleme ganzheitlich anzugehen liegt in unserer Natur. Wenn wir einer anderen Person begegnen - sei es jemand den wir lieben, ein Feind oder jemand von dem wir etwas brauchen - betrachten wir ihn nie reduktionistisch. Wir würden nie überlegen, wie wohl sein Blut durch den Körper gepumpt wird, wie sich seine Temperatur regelt oder wie andere Details funktionieren. Was wir wahrnehmen ist die ganze Gestalt, den ganzen Menschen und unser Gehirn bildet sich sofort eine Meinung über ihn. Lebewesen stellen so fest, ob - ganz biologistisch gesprochen - das Gegenüber freundlich, essbar oder tödlich ist. Wir konnten uns nur entwickeln, weil wir diese Unterscheidungen treffen können. Und sie funktioniert ganzheitlich, das ist ein holistischer Ansatz zur Problemlösung. Und hier ist das Problem wirklich existentiell, denn wenn die Antwort nicht stimmt, ist man schnell derjenige, der gefressen wird.

Wenn Sie vom Leben Gaia’s sprechen, ist ja mit 4 oder 5 Milliarden Jahren die Rede von enormen Zeiträumen Das reicht weit hinaus über unser normales Zeitbewusstsein. Ist unsere Kultur vom Lauf der Zeit abgeschnitten?


Wir vergessen häufig, wie enorm kurz der Zeitraum der menschlichen Existenz auf der Erde ist. Wir sind seit vielleicht 2 Millionen Jahren hier. Das ist weniger als ein Tausendstel der bisherigen Lebensspanne des Planeten - also ein winziges Stück Zeit. Und Zivilisationen gibt es in der Geschichte des Lebens erst seit einem Augenblick. Ich frage mich oft, wie lange Zivilisationen überhaupt bestehen können. Einer der unheilvolleren Gedanken basiert darauf, dass wir noch keine Signale aus dem Weltraum empfangen haben, seit wir ihn mit hochempfindlichen Antennen abhören. Eine Antwort darauf könnte sein, dass es auf diesen unzähligen Milliarden anderer Planeten zwar Leben gibt, aber die Lebensspanne von Zivilisationen sehr kurz ist.

Wenn wir von der Evolution des Organismus Erde sprechen, dann lässt sich das ja auch wie die Biographie eines Lebewesens verstehen. In welchem Entwicklungsstadium befindet sich denn die Erde heute.


Es war fast so etwas wie ein embryonaler Zustand, als die Erde ohne Sauerstoff war. So als hätte sie in einer selbstgemachten Gebärmutter gelebt. Dann kam die Zeit der mikrobischen Mehrzeller als der Sauerstoffanteil wuchs, vergleichbar mit der Lebensform eines Babys. Jetzt, wo die großen Dinge entstanden sind, sind wir wohl in der Kindheit und stehen jetzt an der Schwell zum Erwachsensein. Wie die Jugend und das Erwachsensein aussieht, weiß ich nicht.

In manchen Kreisen ist die Gaia-Theorie so etwas wie ein Religionsersatz geworden, vielleicht auch eine Art wissenschaftliche Basis für naturreligiöse animistische Glaubensrichtungen. Beteiligen Sie sich an dieser theologisch-religiösen Diskussion?


Ich fühle mich überhaupt nicht wohl, wenn ich zu diesem Themenkomplex etwas sagen soll. Ich empfinde es als eine große Hybris, mich in diesen Aspekt der Sache einzumischen. Meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es, herauszufinden, wie der Planet funktioniert und die entsprechenden bestmöglichen Theorien zu entwickeln. Wenn diese Theorien dann irgendetwas beinhalten, was die Möglichkeit eröffnet, dass sich die Menschen in ihrer Existenz auf diesem Planeten wohler fühlen, dann ist das ganz in Ordnung so. Und es wäre auch ein wunderbares Resultat. Aber es muss von alleine passieren. Ich glaube nicht, dass ich mich hinstelle und beginne, so etwas zu predigen. Das wäre völlig daneben.

Die Flut der Weltuntergangsszenarios wächst. Bedeutet das, dass die westliche Zivilisation beginnt, die ihr innewohnenden Gefahren wahrzunehmen oder glauben sie, diese Szenarios haben keine Wirkung?


Ich wäre froh, wenn ich das wüsste. Ich vergleiche unsere jetzige Situation immer mit dem Europa der 30er Jahre kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle ahnten, dass ein Krieg kaum zu verhindern war. Das folgte dem Gesetz der Stammesgesellschaften, zu der wir schließlich gehören und der wir uns auch schwerlich entziehen können. Und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wer deutlich auf die Entwicklung hinwies, galt als finsterer Pessimist und wurde nicht sonderlich ernst genommen. Und doch ahnten wir alle tief innen, dass irgendetwas Übles passieren würde. So war es ja dann auch. Ich glaube, dieses sehr allgemeine Gefühl des Unwohlseins ist heute wieder weit verbreitet. Die Menschen kennen nicht die Natur der Katastrophen oder Desaster, die möglicherweise vor uns liegen. Aber sie sind sich ziemlich sicher, dass wir nicht so ohne weiteres davonkommen werden, weil sie uns sehr bald erwischen können.

Beschäftigt sich unsere Kultur denn eigentlich mit den wirklich wichtigen Themen? Findet über die Tatsache, dass wir die Atmosphäre aus dem Gleichgewicht bringen und auf dem Weg in eine globale Krise sind, findet darüber ein angemessenes Maß an Auseinandersetzung statt?


Unser Problem ist wirklich, dass wir in dieser alten Stammeskultur gefangen sind. Wir können uns nicht absichtsvoll in eine bestimmte Richtung bewegen, solange sich nicht der ganze Stamm darauf geeinigt hat. Bis dahin sind wir nur eine ziellos schnatternde Gruppe, in der alle möglichen Positionen und gegensätzlichen Ideen zirkulieren. Wenn es aber irgendwie im kollektiven Bewusstsein des Stamms zu der Erkenntnis kommt, dass ein bestimmter Schritt notwendig ist, kann es zu rasanten Veränderungen kommen. In der Regel passiert das vor einem Kriegsausbruch oder als Reaktion auf eine äußere Bedrohung. Ich hoffe darauf, das die bevorstehende globale ökologische Krise so eine Art Reaktion des globalen Stamms provoziert, vergleichbar mit der Reaktion auf eine territoriale Aggression. Wenn es zu einer kollektiven Reaktion kommt, dann haben wir eine Chance, dann könnten wir für eine Menge Fragen Antworten finden. Aber es werden nicht irgendwelchen bedeutungsschwere Worte sein, die diese Reaktion auslösen können. Es muss irgendwas passieren, irgendeine Überraschung, irgendein Desaster ausreichender Größenordnung, die den Leuten rund um den Globus deutlich macht, dass sie wirklich bedroht sind und besser was dagegen unternehmen sollten.

Bedeutet das, dass unser scheinbar wachsendes Umweltbewusstsein sich eigentlich weniger um den Schutz der Natur dreht, als vielmehr um unser eigenes Überleben?


Nun, das ist nur menschlich. Mich amüsiert es immer, wenn ich zu einer Versammlung von Grünen gehe und feststelle, dass alle mit dem Auto gekommen sind. Wir verhalten uns nicht entsprechend unserer Überzeugungen, auch das ist menschlich. Und es braucht eine wirkliche Bedrohung, um das zu ändern. Und bis dahin wird halt geschnattert: „Es ist schrecklich, da muss doch was passieren“ oder: „Nächstes Jahr unternehme ich etwas dagegen“ - und dann wird das Thema beiseite geschoben und vergessen. Im Leben läuft das ganz genauso. Jeder, der raucht kennt das. Ich habe geraucht als ich jünger war, weil alle rauchten und obwohl ich als Mediziner wusste wie schädlich es ist. Und was habe ich gemacht? Ich habe mir gesagt, ich hör damit auf, wenn ich Zeit dafür habe. Ich brauchte einen Herzinfarkt, um den Ernst der Lage zu begreifen - dann habe ich aufgehört. Was der Planet braucht, ist ein Herzinfarkt. Keinen, der alle umbringt, aber einen der uns aufweckt.

Müssen wir uns bremsen, weniger konsumieren, unsere Bedürfnisse und Wünsche reduzieren?


Im Moment haben wir keine Wahl. Die Erde ist so dicht besiedelt und wir verbrauchen so immens viel ihrer Ressourcen. Ich glaube, 60% der von Pflanzen durch Photosynthese hergestellten Produkte verbrauchen wir heute für unsere Zwecke. Das ist jetzt schon zuviel. Wenn sich die Erdbevölkerung verdoppelt, liegen wir jenseits der Grenze der Belastbarkeit. Wir müssen uns einfach weniger an materiellen Besitztümer orientieren und mehr an Lebensqualität. Wir haben in unseren beiden Ländern, Deutschland und England, die Zeit des Krieges erlebt und wissen mit welchen Entbehrungen sie verbunden war. Trotzdem hat uns der Mangel an Gütern nicht notwendigerweise unglücklicher gemacht. Im Gegenteil: Viele erinnern sich gerne an diese Zeiten, weil ihr Leben mehr Sinn hatte und sie trotz der unglaublichen Entbehrungen mit sich zufriedener waren. Ich glaube, dass der Lebensstandard in Teilen von Deutschland und England während des Zweiten Weltkrieges nicht viel besser war wie in der Dritten Welt heute. Wenn wir damals unter solchen Bedingungen leben konnten, wie viel leichter sollte es uns dann in Friedenszeiten und mit dem Bewusstsein fallen, dann endlich in Einklang mit dem Planeten zu sein.

Wenn man einen so komplexen Ansatz wie die Gaia-Theorie hat, entsteht da nicht schnell das Problem, keine exakten Aussagen mehr machen zu können. Besteht bei der großen Menge der möglichen Interpretation von Fakten in diesem Riesensystem nicht die Gefahr von Falschaussagen?


Ich stimme da völlig mit Ihnen überein. Wissenschaftler können nie - sei es nun Gaia oder Ihr Körper - Systeme wirklich erklären. Das geht nicht. Alles was sie machen können, sind Modelle von Systemen. Das lässt sich vielleicht mit Karikaturen vergleichen. Wenn ein Künstler mit einem Strich das Gesicht eines Politikers skizziert, dann stellt er auch nicht die ganze Person dar. Und so ist es auch mit unseren Modellen von der Welt. Selbst wenn sich in der wirklichen Welt einmal beweist, dass es sich bei der Erde um ein System wie Gaia handelt, ist doch alles, was wir heute herstellen nur Karikatur, nur eine grobe Zeichnung. Natürlich kann sie im Detail falsch sein.

Steht Gaia im Mittelpunkt des Modells, dann verliert der Mensch seine Stellung auf dem Schöpferthron. Ist er gar, wie vielfach behauptet, für die Erde eine Art Krebszelle, den Superorganismus zerstört?


Ich glaube, das ist ein schrecklicher Vergleich. Und sehr unzutreffend. Wir sind Teil des Systems. Und wir haben die Chance, es gut oder schlecht zu machen. Wir können Gaia weder wachsen lassen, noch zum Verschwinden bringen. Wenn wir die Umwelt verändern, sind wir es, die leiden. Nein, der Mensch ist auf diesem Planeten so natürlich, wie jedes andere Lebewesen. Und die Regeln des Gesamtsystems treffen ihn so, wie alle anderen. Im Moment verschlechtern wir eben die Lebensbedingungen für unsere Nachkommen. Und die Regel sagt deutlich, daß wir aussterben, wenn wir so weitermachen, während das System fortbesteht.