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Dolores LaChapelle - Das wirkliche Menschsein wiederentdecken

Im Gespräch mit der Ökologin und Kulturforscherin Dolores LaChapelle

Dolores LaChapelle, in der tiefenökologischen Bewegung gelten Sie als jene, die Theorie und Praxis den neuen Ansatzes am besten zusammengebracht haben. Wo liegen die Grenzen der herkömmlichen Ökologie?


Wir stehen schlicht an einer existentiellen Grenze. Die herkömmliche Ökologie verschließt davor die Augen. Sie geht davon aus, dass es für jedes Problem eine technologische Lösung gibt, durch die das ganze System am Laufen gehalten werden kann. Letztlich beruht das auf dem Glaubenssatz, dass wir mit der Welt machen können, was wir wollen, weil es immer jemanden geben wird, der die Schäden reparieren kann. Tatsache ist, dass es diese Lösungen nicht gibt. Wir haben immer weniger Humus, wir haben keine saubere Luft mehr und das Wasser ist immer öfter so schmutzig, das Fische aussterben. Es gibt keinen Weg all das zu reparieren.

Wo liegen die Wurzeln der Fehlentwicklung?


Manche sind der Meinung, dass es mit dem Beginn der Landwirtschaft passierte. Das ist 10.000 Jahre her. Aber während 99% der Geschichte der Menschheit waren wir Jäger und Sammler. Nur während einem Prozent dieser Zeit waren wir sesshafte Bauern. Als Jäger und Sammler mussten die Menschen im Einklang mit dem Ort leben, und sie fanden die Balance zwischen sich und der Natur. Sie wussten beispielsweise: Wenn ihre Geburtenrate steigt, dann ist nicht genug für alle da. Also überwachten sie ihren Bevölkerungszuwachs. All diese Kulturen praktizierten Empfängnisverhütung und schufen so ein Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Unter diesem Gesichtspunkt wird klar, dass die Landwirtschaft vielleicht gar nicht der große Fortschritt war, für den sie viele halten.

Über welches Wissen verfügten die traditionellen Kulturen also, um ihre Gesellschaften weitgehend nachhaltig zu gestalten?


Diese Menschen sahen die Natur als ein Geschenk. Alles was sie von ihr erhielten, wurde als Gabe wahrgenommen. Sie forderten nichts von der Natur und sie entrissen der Natur nichts. Aber mit dem Beginn der Landwirtschaft setzte sich die Idee durch, dass der Mensch die Natur zwingen darf, ihm mehr und immer mehr zu geben. Das war der Grundimpuls für die Überbevölkerung vor der wir heute stehen. Denn weil dafür mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, wuchsen die Familien. Mehr Menschen brauchten dann wieder mehr Nahrungsmittel – und so drehte sich die Spirale immer weiter nach oben.

Wie wurde von unseren Urahnen das Verhältnis zur Natur wahrgenommen?


Die meisten Stammesgesellschaften bauten auf die Überzeugung, dass man dem Land immer etwas zurückzugeben hatte. Solange das geschah, gab die Natur immer genug. Aber es ging um das geben, nicht um das Nehmen. Man könnte das, was vor der Einführung der Landwirtschaft praktiziert wurde, ein System des wechselseitigen Austauschs von Geschenken zwischen Mensch und Natur nennen. Die Landwirtschaft zerstörte dieses ausgeglichene Beziehungsmuster zwischen Mensch und Natur. Von da an verschlechterte sich die Situation für die Natur.

Und doch kann die Lösung nicht darin bestehen, in die Strukturen der Stammesgesellschaften zurückzukehren?


Aber der wesentliche Punkt ist: Wir sind immer noch die selben menschlichen Wesen. Die Leute sagen immer: Es gibt keinen Weg zurück und es muss immer vorwärts gehen. Aber seit mindestens 500.0000 Jahren sind wir die selbe Gattung Mensch. Da liegt unsere wirkliche Natur. Wir müssen nicht zurückgehen, sondern das wirkliche Menschsein wiederentdecken. Und da sind die Bedürfnisse gleich geblieben. Das sieht man schon daran, dass die adligen Schichten in der Feudalzeit ebenso wie die reichen Schichten der Neuzeit es als besonderen Luxus verstanden, was die Jägerkulturen der Urzeit den ganzen Tag taten: Angeln, Jagen, Kommunikation, Tanz und Musik. Das ist es, was der Mensch braucht. Und es ist genau das, was der Mensch schon seit Urzeiten getan hat, lange bevor all diese Probleme auftauchten.

Was bedeutet das für unser Verständnis von Ökologie?


Es gibt zwei Arten von Ökologie. Die eine ist die oberflächliche Ökologie. Sie besteht daraus, dass die entwickelten Länder für ihre Bürger die Luft und das Wasser sauberer machen. Die dritte Welt hatte doch nie die Chance, sich so weit zu entwickeln, dass sie ihre Luft, Gewässer und Böden wieder sauber machen konnten. Das Leiden der Dritten Welt besteht ja gerade in den weltweiten Exzessen der entwickelten Welt. In der sogenannten tiefen Ökologie aber stellen wir die Frage, ob die Gesellschaften der Gegenwart die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen - Liebe, Sicherheit, Zugang zur Natur. Wir fragen weiter, welche Gesellschaft, welches Erziehungsmodell ist nützlich für das Leben auf dem Planeten als Ganzes. Und dann fragen wir danach, was getan werden muss, um die nötigen Veränderungen in Gang zu bringen. Insofern formuliert die Tiefenökologie besonders das, was eigentlich in und für die Dritte Welt getan werden müsste: Es geht um einen ganz grundlegenden Wandel.

Also zuallererst um einen Wandel in unserem Denken?


Der Mensch ist der Natur nicht überlegen. Er ist vielmehr nur ein Element in der überlegenen Aktivität des gesamten Lebensnetzes. Wir sind nicht diejenigen, die auf diesem Planeten das Wissen und die Weisheit gepachtet haben. Die wirkliche Weisheit liegt in der Natur. Diese Weisheit hat wenig mit Philosophie oder Politik zu tun. Philosophie heißt wörtlich ‚Liebe zur Weisheit’. Doch unsere philosophische Erkenntnis ist weitgehend ein Hirngespinst. Die alten Griechen haben sich enorme Gedanken gemacht, sie aufgeschrieben und immer weiter entwickelt, aber sie haben dabei kaum, so wie Stammesgesellschaften, von der Natur gelernt. Für Jäger und Sammler hingegen bestand das Leben ganz selbstverständlich aus einem fortwährenden Lernprozess mit weit offenen Sinnen.

Kann aus so einer Sichtweise eine Art tiefenökologischer Politik entstehen?


Politik ist aus meiner Sicht eher ein Teil des Problems, anstatt die Lösung. Die grünen Parteien haben die Tiefenökologie bislang abgelehnt, weil sie im bestehenden System mitmachen wollen. Tiefenökologie scheint als Programm politisch nur sehr beschränkt möglich zu sein. Denn mit diesen Ideen ist man für die Mehrheit nicht wählbar. Wenn es also weder ein philosophischer noch ein politischer Ansatz ist, was ist es dann? Ich würde sagen: Es ist eine Art und Weise, auf die Welt zu schauen und dabei festzustellen, dass die Probleme und ihre Lösungen weit tiefer sind, als wir bislang dachten. Man kann sie nicht nur über politische Maßnahmen lösen. Denn politische Maßnahmen bedeuten immer weitgehende Kompromisse mit den bestehenden Strukturen. Machen wir die, wird sich die Lage aber weiter verschlimmern. Also muss die Weg aus der Krise anders sein als alle bisherigen Ansätze.

Welchen Weg sehen Sie dann?


Ich glaube das die Lösung in dem besteht, was wir Bioregionalismus nennen – einer radikalen Dezentralisierung. Menschliche und kulturelle Entwicklung ist gerade in den Stammesgesellschaften immer aus der Aufmerksamkeit für den Ort entstanden, an dem die Menschen lebten. Was kann das für uns heute bedeuten? Es heißt durchaus, weiter seine Steuern zu zahlen. Aber es bedeutet auch, den Zentralregierungen deutlich weniger Macht und Aufmerksamkeit zu geben. Statt dessen müssen wir für das aufmerksam werden, was unser jeweiliger Lebensort von uns braucht, um sich weiter entwickeln zu können: das Land, die Böden, die Bäume. Das wäre die Grundbedingung dafür, dass die Dinge besser werden anstatt immer schlimmer. Aber das kann man nicht im großen Maßstab von oben verordnen. Man kann das nicht nach hierarchischen Prinzipien durchsetzen, weil jeder platz verschieden ist. Deshalb ist Tiefenökologie für mich ein Ansatz, der versucht uns dabei zu helfen, endlich zu lernen, was die Bedürfnisse des Landes sind und dann entsprechend zu reagieren.

Steckt das hinter dem Slogan: ‚Lokal handeln, global denken’?


Dieser Slogan hat einen gewaltigen Haken. Den meisten modernen Menschen wäre die sogenannte ‚eine Welt’ am liebsten, vollkommen gleichgeschaltet und homogen. Ganz so, wie es sich die multinationalen Konzerne wünschen. Aber das wird uns nicht weiterbringen. Der Grund dafür, dass ich das so arrogant sagen kann, liegt in folgende unumstößlicher Tatsache: Menschliche Wesen sind Säugetiere. Und ein Säugetier kann nur eine tiefe Beziehung aufbauen zu etwas, mit dem es direkt konfrontiert ist. Ein Säugetier kann nicht wirklich über den Planeten reden, weil es den Planet nicht sieht. Diese schönen Slogan von der „Einen Welt“ wird nicht funktionieren. Ein Säugetier muss den Ort, über den es läuft, sehen, um sich darum zu kümmern. Die künstliche Idee, dass wir die Erde lieben müssen, ist nur ein weiteres Hirngespinst. Wir können die Erde nicht lieben. Was wir lieben können, ist unser Platz auf dieser Erde. Lebendig zu sein heißt seit dem Beginn der Menschheit, in völliger Aufmerksamkeit mit dem eigenen Platz verbunden zu sein. Dann wird das Land heilig und wir spüren die Dankbarkeit für die Fülle des Ortes, der uns am Leben hält und von dem wir ein Teil sind. „Wildheit“, sagt der Poet Gary Snyder, „ist eine Zustand völliger Aufmerksamkeit“. Das ist es, was wir brauchen!

Aber ist nicht gerade in vielen traditionellen Kulturen die ‚Mutter Erde’ der wesentliche Bezugspunkt?


Mit diesem Begriff von ‚Mutter Erde’ ist es dasselbe. Wir meinen, dass alle traditionellen Kulturen diese Vorstellung einer großen Erdmutter gehabt hätten. Aber das ist Unsinn. Es gab viele verschiedene ‚Göttinnenfiguren’ oder wie immer man sie nennen mag, für den Platz, an dem die Menschen lebten. Und dieser Platz war in Hawaii natürlich ganz anders, als an der amerikanischen Nordwest-Küste. Deshalb war die Göttin hier ein Vulkan und dort ein Lachs. Sie war ‚Mutter’, kein Frage, aber nicht ‚Mutter Erde’.

Gleichzeitig wird durch die modernen Transport- und Kommunikationsmittel die Welt immer mehr zu einem globalen Dorf ...


Aber ein Großteil der Probleme hängt gerade damit zusammen, dass wir in dieser immer mobileren Gesellschaft nicht mehr lange genug an einem Platz bleiben, um spüren zu lernen, was dieser Platz eigentlich wirklich von uns braucht. Was die Natur also jetzt braucht, ist, dass wir herausgehen und mit ihr arbeiten. Und das heißt: Arbeite an dem Platz, an dem Du lebst. Reise herum, bis Du einen Platz findest, den Du so liebst, dass du bereit bist, für ihn zu sterben. Dort beginnst Du, die politischen Kämpfe auszutragen, die dieser Platz braucht. Lasse Dich nieder - nur so lernst Du, was dein Platz braucht.

Wie wissen wir, was der Platz braucht?


Wir müssen viel verlernen von dem, was wir für so wichtig halten. Und das geht nur, wenn wir unseren Platz finden. Wenn wir uns dort verwurzeln, die lokalen Nahrungsmittel essen, aufmerksam den dort lebenden Menschen zuhören und das nicht-menschliche Leben beobachten, dann erst können wir herausfinden, was dort zu tun ist. Und dann entstehen von alleine die notwendigen Rituale und Ideen.

Heißt das, ein Großteil der konventionellen Umweltpolitik ist für die Katz?


Wir schmieden dauernd Pläne. In den letzten 40 Jahren sind mehr Pläne zum Schutz der Natur entwickelt worden, als in der ganzen Geschichte der Menschheit. Sie haben uns nichts gebracht, weil diese Pläne Hirngespinste sind. Was die Natur von uns verlangt ist, ist nicht in neuer Form über sie zu bestimmen, sondern endlich mit ihr zu kooperieren. Und das heißt wiederum: Geh zurück an Deinen Platz und tue was zu tun ist.

Im Mittelpunkt ihrer Schriften steht das, was Sie ‚binding back’ nennen. Was verstehen Sie unter dieser ‚Rückbindung’?


Das Gefühl für das, was fließt, gewinnen wir in der Bewegung. Die Rückbindung geschieht im Ritual. Rückbindung kann geschehen beim Klettern, beim Skilaufen, durch gemeinsame Erfahrung in der Natur, in vielen Handlungen. Ich habe in meinem Leben das Ritual nicht gesucht. Es war da, bevor ich den Begriff kannte und war dadurch gekennzeichnet, das Alles zu enthalten, es zu begreifen, keiner Erklärung zu bedürfen und Himmel, Erde und Menschen in der Gegenwart zu verbinden. Es gibt keine derartigen Rituale in der wachstumsversessenen Industriekultur der Gegenwart. Ich habe damit begonnen, kleine Rituale zu entwickeln. Von der Beobachtung des Mondaufgangs, Feiern den Vollmonds über nächtliche Trancetänze bis zum Tai Chi. Wildheit - dieser Zustand absoluter Wachheit - hat nicht mit den verrückten und destruktiven Handlungen zu tun, mit denen die unterdrückten Menschen der modernen Zivilisation einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Die Unterdrückung, die wir uns antun, kommt vom dualistischen Denken, wo hier das Gesetz und dort die Wildheit ist. Wirkliche Wildheit ist anders: Sie enthält die höhere Ordnung aller Wesenheiten eines Platzes, die alle ihre ganze Natur so verwirklichen, dass das gesamte Ökosystem und der Platz als Ganzes blüht.

Wie kamen Sie auf die Tiefenökologie?


Während all dieser Jahre des Lernens hatte ich nie einen Namen für das, was mir passierte. Es schien mir wie eine schrittweise Vertiefung in etwas, wofür die europäische Kultur keine Worte hatte. Bis ich 1977, auf dem Earth Festival in Kalifornien auf Arne Naess stieß. Er sagt: „Die tiefe Ökologie stellt die Frage, ob die Gesellschaften der Gegenwart die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen: Liebe, Sicherheit, Zugang zur Natur. Wir müssen fragen, welche Gesellschaft, welches Erziehungsmodell ist nützlich für das Leben auf dem Planeten als Ganzes. Und wir müssen fragen, was getan werden muss, um die nötigen Veränderungen in Gang zu bringen.“ Was er auf dem Gebiet der Philosophie geleistet hat, holte James Hillman für die Psychologie nach, als er sagte, dass wir uns nicht mehr mit dem Individuum, sondern mit der Seele des Ganzen beschäftigen sollten. Statt „Ich denke, also bin ich“ gilt ihm „Ich bin, weil ich teilhabe an der Welt, ihren Mustern, Menschen, Tieren, Bäumen“. Die neuen Konzepte des Selbst sind schwer zu begreifen, sie sprengen den Rahmen dessen, was wir für wahr nehmen. Mein Weg des erkennens war ganz anders: Mich haben es Pulverschnee, Himmel und Berge gelehrt.

Wie kann einem das Skifahren solche Einsichten vermitteln?


Das Fahren im Pulverschnee ermöglicht die absolute Erfahrung der dynamischen Beziehungsmuster zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen, der Energie der Erdanziehung und dem Schnee als Ausdruck des Himmels. Anpassung an die Natur hat nichts damit gemein, sich einem menschengemachten Gesetz zu unterwerfen, das Deine Freiheit beschneidet. Wirkliche Anpassung an die Natur hat viel mehr gemein mit einer gemeinsamen Abfahrt. Für jeden erfahrenen Skiläufer gibt es nur einen besten „Weg“: für jede mögliche Position am Hang gibt es nur eine Fall-Linie. Fahren mehrere miteinander, so können alle mit Höchstgeschwindigkeit abfahren und doch miteinander und mit der Erde fließen. Es ist wie beim Flug der Vögel, die durch die Lüfte kreisen, keiner ist Führer, es gibt keine Untertanen, denn alle sind zusammen. Die einen passen sich responsiv der Erde, die anderen dem Himmel ihrer Welt an, es gibt keine Zusammenstöße. Hier ist jedes menschliche Sein auf seinem eigenen Pfad frei.

Also geht es um einen Zustand absoluter Achtsamkeit?


So kann man das nennen. Die Bewegungen sind minimal, nur die Knie geben nach, reagieren auf den leichten Druck des Schnees. Es ist eine Mischung aus Fliegen und Landen, es hebt und zieht mich, ich gebe der Gravitation nach, geh in die Fersen, spüre, wie der Schnee mich wieder hebt und lenke die Spitzen ein Stück nach links. Die Schwünge sind völlig fließend, denn da ist kein bewusstes Tun, kein Denken. Du siehst es an der Spur im Schnee. Es ist Seligkeit, pure Seligkeit. Es ist ein besonderes Geschenk der Beziehung zwischen Himmel und Erde. Es lässt sich nur erleben an Plätzen, wo alle Bedingungen stimmen, es passiert in besonderen Momenten auf dieser Erde, es dauert manchmal nur Augenblicke, bis das Licht sich verändert und der Wind dreht. Manche Menschen widmen dieser Erfahrung, das Sein im reinen Spiel zu erleben, die besten Jahre ihres Lebens. Um es richtig zu machen, musst Du dich dem Schnee hingeben.

Demnach gibt es zahllose Wege zur Erkenntnis?


Sicherlich. Alles was heute ich weiß, habe ich dabei gelernt, die Hänge heraufzusteigen und herunterzugleiten. Wer in tiefem Pulverschnee Ski läuft, trifft auf keinen Widerstand, trifft auf rein gar nichts. Da ist nicht irgendwas, von dem man sich abstößt, um sich zu drehen, wie beim normalen Skifahren. Wer darauf besteht, sich dort abzustoßen, wo nichts ist, setzt nur den Impuls seiner Bewegung fort und fällt in den bodenlosen Schnee. In unserer Kultur gibt es kein Wort für diese Erfahrung des „Nichts“, für den fehlenden Widerstands beim Tiefschneefahren. Im Gegenteil: Die Vorstellung des Nichts, des Nicht-Seins macht uns Angst. Nur in der Lehre des Taoismus gibt es „die Fülle der Leere“, aus der alles entsteht. Meine Erfahrungen im Pulverschnee gaben mir eine Ahnung dessen, was meinem Denken vorher nicht zugänglich war.

Wie kann eine solche Erfahrung das Bewusstsein oder gar das Weltbild verändern?


Wenn erst einmal dieser Rhythmus zwischen Schnee und Gravitation entstanden ist, hört das „Ich“, der „Berg“ und der „Schnee“ auf, getrennt voneinander zu existieren. Es fließt zusammen in einen einzigen Strom der Interaktion. Ein fließender Prozess ohne Grenzen. Mein Handeln bildet ein Kontinuum mit der Handlung des Schnees und des Berges. Ich kann nicht mehr genau sagen, wo mein Handeln aufhört und das des Schnees beginnt und wann die Gravitation hereinspielt. Je öfter Du das erlebst, desto mehr verliebst Du Dich darin. Und Du lernst, wie schnell Du diese komplexe Interaktion zerstörst, sobald Du bewusst planst, forderst und deinen Willen durchsetzen willst. Wer einmal diesen Verlust aller Grenzen des Egos erlebt hat, macht einen radikalen Bewusstseinswandel durch, der sich nach und nach ausdehnt und vertieft. Wir sind das Opfer einer Einbildung, hat Allan Watts gesagt, wenn wir an das Paradigma unserer Kultur glauben, dass unser Individuum dort aufhört, wo unsere Haut endet: Dann kommen wir zu einer Wahrnehmung des Individuums, dass weder als Ego in seiner Haut eingeschlossen ist, noch das Zahnrad einer großen Maschine ist, sondern dass es ein sich dabei um einen gegenseitig beeinflussender Prozess ist zwischen allem, was innerhalb und außerhalb der Hauthülle passiert handelt, ohne Dominanz des einen oder anderen, gleichberechtigt, wie zwei Seiten einer Münze.

Arne Naess nennt diese Erfahrung das ‚ökologische Selbst’ . Ist da noch klar spürbar, was wir den ‚menschlichen Geist’ nennen?


Wenn das Individuum aus der Begegnung und Beziehung der inneren und der äußeren Welt besteht, was ist dann Geist? Gregory Bateson hat gesagt, das der Geist, mit dem wir die Informationen verarbeiten, nicht auf den Körper beschränkt ist, auf jenes System, dass wir gewöhnlich das „Selbst“ nennen. Vielmehr schließt diese Information, die das Selbst verarbeitet, alle Wege ein, diese Information gegangen ist: Der Weg durch andere Gehirne, durch Licht, Klang, Temperatur und alle anderen Aspekte zwischen Himmel und Erde. Das Individuum, was wir das Selbst nennen, wählt aus der Fülle der Informationseinheiten das aus, was es gerade braucht und zieht künstliche, fiktive Grenzen zwischen Mensch und Umwelt. Was denkt, ist das ganze System, das sich mit Versuch und Irrtum beschäftigt, mit dem Menschen und der Umwelt. Arne Naess meint nichts anderes, wenn er vom „ökologischen Selbst“ spricht. Die kleinen Welten, die wir uns schaffen, sind kleine Kreisläufe eines größeren Kreislaufes, wie Schubladen eines viel größeren Schrankes. Der eigentliche Kreislauf ist der des Ökosystems, wo Du nicht mehr trennst zwischen Input und Output, sondern Teilnehmer des ganzen Geschehens bist. Je größer die Hingabe an den großen Kreislauf, je größer die Ganzheit der Erfahrung, je mehr Wissen und Bewusstheit für alle beteiligten Faktoren, desto größer die Freiheit.

Braucht es für diese fast spirituelle Erfahrung eine Arbeit am menschlichen Bewusstsein?


Das war doch schon immer ein Teil von uns. Wir brauchen nicht unser Bewusstsein zu verändern, wir müssen vielmehr vieles von dem, was wir in den letzten 2000 Jahren gelernt haben, wieder verlernen. Die wirkliche Bedeutung des Wortes Religion, lateinisch "religio", heißt "Rückbindung". Religiös sind wir seit den Zeiten der Höhlenmalerei. Wir waren uns immer bewusst über diesen endlosen Strom von Leben, der durch uns und die Erde von Anfang an fließt. Dass es auf der einen Seite etwas Spirituelles gibt und auf der anderen Seite etwas Materiell-Natürliches, ist eine Falle des westlichen Denkens. Spirituelles und Materielles sind beides Teile eines endlosen Kreises. Und im Westen wird die Energie, die durch die Welt fließt, mit der Bezeichnung "spirituell" versehen. Andere Kulturen machen diese Unterscheidung einfach nicht.

Das klingt nach so wenig Anstrengung, dass mir der Begriff des ‚Spiels’ in den Sinn kommt ...


Leben muss zu einem Spiel zwischen Dir und diesen Kräften werden, dort wo Du lebst. Einsicht und Ort muss sich in Gegenseitigkeit entfalten, gemeinsam wachsen und voneinander lernen. Ich würde das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als einen Prozess der gegenseitigen Zweckbindung (reciprocal appropriation) nennen. In so einer Beziehung gibt es keine Trennung mehr zwischen Arbeit und Spiel, Dingen, die man für sich tun oder Dingen, die man für die Welt tun. Alles wird zum einem Spiel im Spiegel dieser Ganzheit. Je tiefer wir uns einlassen, desto mehr lernen wir. Je mehr wir lernen, desto tiefer lassen wir uns ein. Bis es zu einem fließenden Etwas wird zwischen Dir und dem Platz an dem Du lebst, nicht einmal länger beschränkt durch die Zeit. Denn die Zuwendung zur Erde dehnt sich aus in die Zukunft als ein Teil der dort wohnenden Liebe.

Sie haben in all den letzten Jahren einen entsprechenden Erfahrungsprozess angeboten, den sie ‚Breaking through’ nennen. Ein Durchbruch wohin?


Wir gehen mit diesen ganz normalen Menschen raus. Wir üben das Klettern an kleinen Felsen, damit sie die Angst verlieren. Dann setzen wir sie zwei Tage lang in Wildwasserflöße. Dort lernen sie das Zusammenhalten, wenn sie nicht über Bord gehen wollen. Und dann gehen wir ins Hochgebirge. Dort haben sie Angst. Aber die Gruppe unterstützt sie – und sie machen Sachen, die sie nie zu träumen wagten. Und sie kommen verändert zurück. Es sind die Berge und der Fluss, die diese Arbeit machen, nicht wir. Das klingt verrückt, aber es ist wahr. Wir gehen mit diesen ganz normalen Menschen raus. Wir über das Klettern an kleinen Felsen, damit sie die Angst verlieren. Dann setzen wir sie zwei Tage lang in Wildwasserflöße. Dort lernen sie das Zusammenhalten, wenn sie nicht über Bord gehen wollen. Und dann gehen wir ins Hochgebirge. Dort haben sie Angst. Aber die Gruppe unterstützt sie – und sie machen Sachen, die sie nie zu träumen wagten. Und sie kommen verändert zurück. Es sind die Berge und der Fluss, die diese Arbeit machen, nicht wir. Das klingt verrückt, aber es ist wahr. Durch die Intensität der Erfahrung können sich Menschen in sieben Tagen sehr verändern. Sie stellen nicht ihr Leben auf den Kopf, aber sie beginnen, aufmerksam zu werden

Der Kern ist also Achtsamkeit ... ?


Wenn wir darauf bestehen, arrogant damit fortzufahren, in der engen, auf den Menschen fixierten Welt der modernen Kultur zu leben, dann werden wir nicht nur die Vielfalt der irdischen Lebewesen vernichten, sondern auch das Wasser und die Luft, von denen unser Leben abhängt. Wenn wir aber bei jedem Schritt unseres Lebens achtsam sind für die Erde, den Himmel, die Götter, dann ist die Zerstörung zu Ende.

Zur Person Dolores LaChapelle


Der kulturelle Panzer, der uns von der Mitwelt trennt, ist dünner, als wir annehmen. Und die Erfahrung des tiefen Verschmelzens und Eins-Sein mit der Welt liegt viel näher, als wir meinen. Dolores LaChapelle, in den USA längst ein Mythos und bekannt als moderne Schamanin, Bergsteigerin und Extremskilauferin hat in ihrem über 70jährigen Leben jede Möglichkeit gesucht, sich der Natur hinzugeben und diese Hingabe zu lehren. Dolores LaChapelle lebt, lehrt, tanzt und arbeitet im „Way of the Mountain Learning Center“ in fast 3000 Meter Höhe. Im Sommer leitet sie zweiwöchige Intensivkurse zu Gemeinschaftsbildung, Klettern, Rafting, daß sie „Breaking Through“ nennt.