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Geseko von Lüpke, aus dem Buch "Politik des Herzens"

Im Gespräch mit dem Öko-Philosophen Arne Naess

 

Brauchen wir eine Öko-Philosophie?


Die ökologische Wissenschaft allein ist nicht geeignet, uns klare Verhaltensregeln für unseren Umgang mit der Natur zu geben. Ökologie kann uns interessante Daten über die Zahl der Gattungen im Ozean geben. Ökosophie aber kann Normen und Regeln aufstellen, baut auf ethische Überlegungen und nimmt politisch Stellung. Ökosophie wird in der Regel als ökologische Weisheit übersetzt. Mir selbst ist der Begriff der Klugheit lieber. Die ganzheitliche Sicht, die von uns angesichts der ökologischen Krise gefordert wird, ist keine eindimensionale Sache. Wir brauchen viele Ökosophien. Ökosophie ist und bleibt eine persönliche Angelegenheit, selbst wenn Millionen von Menschen sich mit ähnlichen Werten und Normen identifizieren können. An ökologischem Wissen über das was zu tun ist, fehlt es uns nicht. An Ökosophie schon.

Sie gelten als einer der Väter der Tiefenökologie. Was sind die ethischen Überlegungen und politischen Positionen dieses Ansatzes?


Der erste Punkt postuliert, dass jedes Lebewesen einen eigenen Wert besitzt, der unabhängig ist von seinem Nutzen für den Menschen. Zweitens meinen wir, dass auch der Reichtum an Vielfalt, also an Lebewesen verschiedener Art in sich wertvoll ist. Der dritter Punkt lautet: Menschen haben nicht das Recht, in den Reichtum und die Vielfalt von Lebensformen mehr einzugreifen, als es ihre unmittelbaren Bedürfnisse fordern. Viertens: Es wäre besser für uns und alle anderen Lebensformen, wenn es weniger Menschen gibt. Fünftens stellen wir fest, dass der menschliche Eingriff in Ökosysteme zu groß ist und reduziert werden muss. Der sechste Punkt ist die konsequente Forderung nach einer Gesellschaftsveränderung auf allen Ebenen, um die oben genannten Forderungen zu verwirklichen. Siebtens muss sich alles gesellschaftliche Handeln an einer hohen Lebensqualität orientieren und nicht länger an einem hohen Lebensstandard. Achtens meinen wir, dass jeder, der den vorangegangenen Punkten zustimmt, verpflichtet ist zu versuchen, die existierenden Verhältnisse zu verändern.

Das sind doch alles Punkte, auf die sich doch eigentlich ein Großteil der Menschen einigen könnten?


Es ist tatsächlich ganz merkwürdig, wie viele Menschen ehrlich sagen können: „Ja, das kann ich unterschreiben!“ Aber wenn es ans Wählen geht, dann entscheiden sie sich für die alten Politiker – und nicht für etwas ganz neues. Aber ich glaube tief in der Seele der Menschen gibt es eine Sehnsucht, die diesen Prämissen entspricht. Noch aber kommt es nicht an die Oberfläche des politischen und sozialen Verhaltens

Was ist das ‚tiefe’ an die Tiefenökologie?


Die Förderer der tiefenökologische Bewegung sagen, die Gestaltung einer nachhaltigen Welt ist nicht nur eine Frage der umweltfreundlichen Technik und der möglichst nachhaltigen Ökonomie, sondern es ist auch eine Frage der Lebens- und Weltanschauung. Diejenigen, die die tiefenökologische Bewegung unterstützen, haben eine Lebens- und Weltanschauung, die ganz anders sind, als jene, die sich in den letzten 300 bis 400 Jahren in der Welt mehr und mehr beherrscht. Die Prämissen und Fragen sind tiefer. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht nicht Frage der Nützlichkeit für den Menschen. Wir stellen statt dessen die Frage: Was ist ein Leben, dass würdig für Menschen ist. Wir stellen solche Fragen, weil wir doch im Inneren so tief mit Natur zusammenhängen, dass wir nicht Natur zerstören können, ohne uns selbst zu zerstören. Wenn wir mit diesen tiefsten Frage anfangen, dann verändert sich die Schwerpunkte und Prioritäten.

Man könnte meinen, dass im Begriff der ‚Tiefenökologie’ automatisch eine Wertung liegt, nach der andere ökologische Ansätze weniger Wert sind ...


Es kann durchaus sinnvoll sein zwischen ‚tiefer’ und ‚oberflächlicher’ Ökologie zu unterscheiden, wenn wir uns mit den wirklich existentiellen Fragen auseinandersetzen. Aber das muss trotzdem kein Gegensatz sein. Mir geht es darum, die konventionelle, also politisch reformatorische Ökologie mit der Tiefenökologie zusammenbringen. Denn es gibt Menschen, die wirklich sehr viel auf diesem konventionellen Gebiet machen, um ökologische Probleme zu lösen. Und sie fragen sich dabei nicht: „Was sind unsere Ziele im Leben? Was ist für mich persönlich das Wichtigste?“ Davon unterscheiden sich diejenigen, die sich Tiefenökologen nennen. Sie finden: Es ist destruktiv für ihr Selbst, was jetzt geschieht. Sie empfinden: Um ein sinnvolles Leben hier auf diesem Planeten zu leben, müssen wir uns verändern. Sie haben das existentiell gefühlt und haben daher eine spezielle Rolle in der Bewegung. Aber sie agieren zusammen mit denjenigen, die nur an den wissenschaftlichen Fragen interessiert sind oder nur versuchen zu reparieren. Denn das ist natürlich sehr wichtig. Die Unterstützer der tiefenökologischen Bewegung arbeiten zusammen mit denjenigen, die sagen: „Ach nein, diese philosophischen und religiösen Sachen - das ist nicht wichtig.“ Und ich wiederhole: Sie machen ja sehr viele wichtige Sachen.

Trotzdem scheint die Tiefenökologie mehr zu sein, als nur ein neuer philosophischer Ansatz ...


Tiefenökologie ist mit Sicherheit keine Philosophie. Wenn man zeitgenössischen Philosophen nach dem Verhältnis zwischen philosophischer Theorie und Lebenspraxis fragt, dann lachen sie in der Regel und sagen: „Meine alltäglichen Entscheidungen haben nichts mit meinen akademischen Überlegungen zu tun.“ Aber darum geht es ja gerade: Wir brauchen Menschen, die für etwas einstehen und sagen: „Ich lebe meine tiefsten Überzeugungen und wünsche, dass andere das auch tun!“ So eine Haltung meine ich, wenn ich von der ‚totalen Sichtweise’ spreche. Das hat nichts mit ‚Totalitarismus’ zu tun. Was ich damit meine, ist das Zusammenspiel von tiefen Grundwerten und dem Umgang mit der Welt. Wenn das funktioniert, dann wirken die Grundwerte in die alltägliche Lebenspraxis mit all ihren vielen Entscheidungen hinein. Das ist es, was man Ganzheitlichkeit nennen kann. Die Unterstützer der tiefenökologischen Ideen haben einen solche ‚totale Sichtweise’, selbst wenn sie schwierig zu artikulieren ist. Sie leben sie mehr, als von ihr zu sprechen. Und darin unterscheiden sie sich von Vertretern einer oberflächlichen Ökologie, die sagen: „All das braucht es nicht! Wir haben praktische Dinge zu tun!“ Da liegt der Unterschied.

Sie erwähnten gerade dass es neben dem philosophischen auch einen religiösen Aspekt dieses Ansatzes gibt. Kann aus einer solchen Mischung nicht schnell eine Ideologie oder ein ökologischer Fundamentalismus entstehen?


Es gibt keine ‚Tiefenökologen’, es gibt nur Förderer dieses Ansatzes. Und es gibt keine tiefenökologische Ideologie. Viele, die nach diesen Ideen leben, haben noch nie vom Begriff der ‚Tiefenökologie’ gehört. Du kannst Christ sein und sagen: Gott existiert, und was Gott erschaffen hat, hat Wert in sich - also hat jedes Lebewesen einen Eigenwert. Du kannst ebenso gut Buddhist sein oder irgendeiner Philosophie der Selbstverwirklichung folgen und den tiefenökologischen Ansatz unterstützen. Es geht ja nicht um eine neue ökologische Einfalt. Um in der Zukunft eine große Vielfalt unterschiedlicher grüner Kulturen zu erschaffen - und diese Vielfalt ist wichtig für die weitere Entwicklung des Menschen - sollten wir uns lediglich auf eine gemeinsame Norm einigen: nämlich das wir unsere Konflikte gewaltlos lösen.

Versteht sich die tiefenökologische Bewegung als spirituelle Bewegung?


Ich benutzte den Ausdruck ‚spirituell’ nicht so gerne. Ich glaube, die Menschen bauen ihre Grundwerte immer auf philosophische oder philosophische Überzeugungen. Von spirituellen Werten mag man sprechen, wenn es um den Sinn des Lebens geht. Deshalb würde ich sagen: Förderer der tiefenökologischen Idee haben sowohl eine spirituelle wie eine nicht-spirituelle Botschaft. Einige äußern sich so, als wäre die spirituelle am wichtigsten, andere betonen die politisch-sozialen Aspekte und dritte sprechen die ganze Zeit schlicht über die Schönheit der Natur. Der Fokus kann unterschiedlich sein. Und wenn sich manche Leute an der langen Front auf eine Thematik spezialisieren, dann sollten wir tolerant sein und nicht versuchen, sie auf unsere Seite herüberzuziehen.

Aber viele der Grundgedanken finden sich doch auch in den religiösen Traditionen der Welt?


Da gibt es Wurzeln, die sind 1000 Jahre alt und Haltungen, die gehen zurück bis in die Eiszeit. All das ist absolut nichts neues, nein, nein. Es geht um Fürsorge, eine Art erweiterter Anteilnahme, nicht die Intensität der Sorge, sondern ihre Ausdehnung. Wir haben Respekt vor jedem menschlichen Wesen. Jetzt wenden wir uns nicht-menschlichen Wesen zu. Und wenn wir unser Fürsorge ausdehnen bedeutet das natürlich nicht, sich weniger um Menschen zu kümmern.

Wobei man genau das der Tiefenökologie immer wieder vorgeworfen hat: Das sie einer Ameise oder einem Raubtier den gleichen Wert gibt, wie einem Menschen ....


Ich glaube nicht, dass dieser Vorwurf auf die tiefenökologische Bewegung zutrifft. Denn es ist doch ohne Zweifel so: Was immer wir über die ökologische Krise denken oder sagen, werden uns andere Menschen immer wichtiger sein als alles andere. Wenn eins unserer Kinder wegen eines Tiers in Gefahr ist, dann würden dieses Tier töten, um unser Kind zu schützen. Wir würden auch den letzten Tiger auf Erden töten, wenn wir damit unser Kind vor dem Verhungern retten könnten. Ich glaube, das hat gar nichts mit Ökologie zu tun. Wenn es zu so einem ‚Ökologismus’ kommt, dann werden einzelne Werte verabsolutiert. Das brauchen wir nicht. Ich bin auch davon überzeugt, dass die meisten notwendigen Grundwerte intuitiv entstehen und die ethischen Maßstäbe eher im zwischenmenschlichen Bereich entstehen, als in der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur.

Sie sprachen eben von der ‚Ausdehnung unser Anteilnahme für nicht-menschliche Wesen’. Bedeutet das ein größeres Mitgefühl aus der Perspektive des Menschen oder ein neues Verständnis des menschlichen Selbst?


Ich habe zu dieser Frage den Begriff des ‚ökologischen Selbst’ geprägt. Schon die aristotelische Philosophie spricht vom ‚sozialen Selbst’ und will damit sagen, dass wir nie nur reine Egos sind. Wir dürfen unser Ego nicht als etwas begrenztes sehen, das strikt unterschieden werden muss vom sozialen Selbst oder jenem noch viel größeren Selbst, dass ich das ‚ökologische Selbst’ nenne. Es gibt viele Leute, die sich von der fantastischen Natur ihres Selbst nichts wissen wollen. Ich sage ihnen immer: „Ihr seid viel größer als ihr glaubt!“. Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Potentiale und unsere Einzigartigkeit enorm zu unterschätzen.

Wir verläuft die Erweiterung unseres Selbstbildes?


Schon in unseren ersten Lebensjahren begreifen wir, dass die Welt aus mehr als nur Mutter und Vater besteht. Da gibt es Spielsachen und Tiere, mit denen wir sind. Ich verstehe das ‚ökologische Selbst’ als eine Ausdehnung des ‚sozialen Selbst’. Ich bin der Überzeugung, dass das Selbst mehr ist als das persönliche Ego. Es hat auch eine geographische Komponente. Da mag ein Beispiel hilfreich sein. Als sich Mitglieder vom Volk der ‚Samen’, die man in Deutschland ‚Lappen’ nennt, auf einer Demonstration einen ihre Flüsse mit einer Blockade vor der Verschmutzung bewahren wollten und von der Polizei weggetragen wurde, rief einer von ihnen aus: „Dieser Fluss ist ein Teil von mir!“ Und genau diese Ausdehnung unseres Selbst macht tiefen Sinn. Ich glaube wir durchlaufen als Menschen eine Entwicklung, in der wir beginnend mit dem Moment der Geburt den Radius unser Selbst immer mehr ausweiten. Das kann bis zu einem Maß gehen, wo wir uns auch mit anderen Lebewesen identifizieren können. Wenn man sich aus so einer Haltung heraus ökologisch verhält, dann bezeichne ich das auch als ‚Selbstverwirklichung’. Denn das Engagement entsteht aus unserer erweiterten Natur.

Eine Veränderung des Selbstbildes mit radikalen, wenn nicht sogar revolutionären Folgen ...


Revolutionär werden diese Ideen, wenn sie soziale und politische Macht gewinnen. Das Wort „revolutionär“ passt, denn diese Ideen wenden sich gegen vieles von dem, was in den letzen vierhundert Jahren westliche Politik und soziales Verhalten bestimmte.

Stimmen die alten Kategorien von ‚revolutionär’ und ‚evolutionär’, von ‚links’ und ‚rechts’, von ‚konservativ’ und ‚progressiv’ da überhaupt noch?


Wir haben eine anti-bürokratische und eine antizentralistische Haltung und damit konservative Ideale, sorgen uns aber nicht nur um menschliches, sondern auch um nicht-menschliches Leben. Aber wir stehen auch ein für Forderungen, die wir aus sozialistischen Bewegungen kennen. Andererseits würden wir sicher den freien Markt beibehalten, dies aber mit einer weitgehenden Möglichkeit für die Regierungen, in den Markt einzugreifen. Aber wir brauchen die Vielfalt. Sicher ist eine gewisse Zentralisierung unumgänglich, aber sie darf nicht nur über den Weltmarkt laufen. Wenn der globale Markt bestimmt wo es lang geht, dann verlieren wir die kulturellen Unterschiede auf dem Planeten. Also muss der Schwerpunkt auf der Dezentralisierung und der Wahrung der Unterschiede liegen. Wenn wir diese Krise überstehen, dann wird das einzig grundlegende gemeinsame Merkmal grüner Gesellschaften darin bestehen, dass sie langfristig ökologisch lebensfähig sind. Unter ‚grünen Gesellschaften’ verstehe ich soziale Gemeinschaften, die das Problem von Krieg und Frieden ebenso gelöst haben wie das Problem sozialer Ungerechtigkeit. An einer solchen Zukunft arbeiten die Friedensbewegung, die unterschiedlichen sozialen Bewegungen inklusive die Frauenbewegung und die Umweltbewegung. Denn ‚grüne Gesellschaften’ müssen nicht nur ökologisch nachhaltig sein, sondern auch sozial und politisch.

In der Auflistung der acht Grundgedanken der Tiefenökologie erwähnten sie auch die Position, dass wir uns um einen Rückgang der Überbevölkerung kümmern müssen. Auch das ist den Tiefenökologen vorgeworfen worden: Dass sie nichts gegen Katastrophen hätte, weil sie die Zahl der Menschen reduziere.


Das ist völliger Unsinn. Denn das Problem der Überbevölkerung ist primär das Problem der reichen Länder. Dieses Problem ist untrennbar damit verbunden, dass eine kleine Minderheit von vielleicht 500 Millionen Menschen in den reichen Ländern so viel vom Planeten Erde zerstört hat, dass den Menschen der Dritten Welt kein Vorwurf daraus gemacht werden kann, wenn sie auf die Not mit mehr Geburten reagieren. Die Lösung des Problems der Überbevölkerung wird Hunderte von Jahren in Anspruch nehmen, weil es ethisch gelöst werden muss. Sicherlich müssen wir uns mit mehr Verantwortung ethische Fragen stellen, wenn wir neues Leben in die Welt setzen.

Ist die Tiefenökologie in ihrer Betonung des inneren Wertes allen Lebens ein Feind von moderner Technik?


Wir sollten Technologie erster nehmen, anstatt sie abzulehnen! Denn es geht darum Technologie so weiter zu entwickeln, dass sie uns kulturell und ökologisch nützt. Das Problem ist nicht die Technik an sich, sondern ihre Form und Anwendung. Man kann zehn technische Revolutionen haben, ohne dass das irgendeinen Einfluss auf die ökologische Krise hat, weil der Weg von der Erfindung bis zur praktischen Anwendung so unendlich lang ist, wenn es an der politischen Unterstützung fehlt. Darum müssen wir uns kümmern. In den grünen Gesellschaften der Zukunft werden wir mindestens genauso viel Technologie brauchen wie heute. ‚Technologie’ darf kein negativer Begriff werden. Wir brauchen Menschen, die sich für Technologie interessieren. Aber eben für eine Technologie, welche die soziale und ökologische Dimension berücksichtigt.

Kann der tiefenökologische Ansatz jemals wirklich mehrheitsfähig werden?


Ich glaube, es wäre unrealistisch, mit so etwas zu rechnen. Aber was bedeutet Mehrheit? Auch beim Kampf gegen die Sklaverei war nur eine Minderheit wirklich aktiv. Wenn eine Minderheit wirklich überzeugt und aktiv für etwas einsteht, dann kann die Mehrheit auch so reagieren, dass sie sagt „Die haben irgendwie recht“ und sie nicht bekämpft. So wird das auch bei der ökologischen Krise sein. Eine Minderheit wird auf die Zerstörungen hinweisen und die Gefahren für uns Menschen aufzeigen. Man wird ihnen nicht wirklich glauben, aber ihr Einfluss wird zunehmen und zu neuen politischen Initiativen führen. Die Mehrheit wird sagen, da ist was dran. Zur Zeit heißt es noch: „Das ist doch alles nicht nötig, eure Voraussagen sind viel zu pessimistisch.“ Aber sie erinnern sich an das, was wir sagen und bekämpfen uns weniger hartnäckig. Und das ist erst mal genug. Die Zeit für einen tiefen Wandel wird kommen, da habe ich keine Zweifel.

Sind sie selber also eher ein Optimist, als ein Pessimist?


Ich glaube, dass die Situation noch sehr viel ärger werden muss, ehe man etwas wirklich Wichtiges macht. Im nächsten Jahrhundert werden vielleicht noch größere Zerstörungen sein. Wenn man mich fragt, ob ich Optimist oder Pessimist bin, sage ich: Ich bin ein großer Optimist – aber erst für das 22. Jahrhundert. Für das 21. Jahrhundert bin ich pessimistisch, denn zur Zeit werden wir immer weniger nachhaltig. Auch wenn ich für das 21. Jahrhundert große Probleme auf uns zukommen sehe, halte ich nichts von diesen Untergangs-Szenarien. Wir müssen uns klar sein über die Folgen unseres Tun’s und die Kosten des Wandels begreifen. Wir sollten heute und morgen dafür arbeiten. Denn je mehr wir das tun, desto weniger Ärger haben wir im 21 Jahrhundert. Aus diesem Grund versteht sich die tiefenökologische Bewegung auch als eine langfristige Bewegung. Wir zielen nicht auf kurzfristige schnelle Lösungen. Das verringert einerseits den Druck, unter den wir uns stellen, andererseits ist es natürlich schwierig, das politisch umzusetzen. Denn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zielt auf die nächsten Paar Jahre.

Heißt das, wir müssen in ganz anderen Zeitdimensionen denken und planen?


Ich denke, es ist eine fantastische Perspektive, in großen Zeiträumen denken zu können. Warum sollten wir nicht davon ausgehen, dass wir Millionen von Jahren vor uns haben und die heutige Zeit der Zerstörung nur einige Hundert Jahre betrifft. Ich bin mir sicher, dass wir langfristig unsere Gehirne weit positiver nutzen werden, als in der Gegenwart. Ich selbst werde vielleicht für eine kurze Zeit als einer von denen erinnert werden, die einen solchen langfristigen Ansatz begründeten. Aber insgesamt wird unser Zeitalter einmal nur als eine Ära der Barbarei erinnert werden, in der man jeden Wal, der im Meer herumschwamm, töten dürfte, solange man die Gattung nicht ausrottete. Ich stelle mir für die ferne Zukunft einen natürlichen Reichtum und eine biologische Vielfalt vor, in der Seeleute aufpassen müssen, dass ihr Schiff nicht mit einem Wal kollidiert, weil die Meere voll sind mit ihnen.

Wie kommen wir zu dem Punkt, wo aus Wissen um die notwenige Veränderung die Weisheit der Praxis wird.


Wissen wird nicht leicht zu Weisheit. Weisheit hat eher mit Motivation zu tun. Wenn wir anerkennen, dass wir mit der gegenwärtigen Situation auf dem Planeten unzufrieden sind, dann steht es an, den Schritt von der wissenden Beschreibung zu klaren Richtlinien zu machen, die nicht länger nur deskriptiv sind, sondern klar normativ. Die uns sagen, was wir zu tun haben – jedem von uns, aber auch unserer Gemeinde, unserem Land, unserem Planeten.

Einer ihrer Ratschläge ist es, radikale Fragen zu stellen. In wie fern muss das Fragen heute radikaler sein, als in den herkömmlichen Philosophien?


Es geht nicht um neue Denkansätze im Rahmen des alten Weltbilds, sondern um eine neue Sichtweise auf die Welt. Wir können nicht einzelne Techniken kritisieren, wir müssen die Art unser modernen Gesellschaften in Frage stellen. Eine der Punkte, auf den die Tiefenökologie fordert, ist, statt dem Lebensstandard die Lebensqualität zu verbessern. Was wir Lebensstandard nennen, wird davon bestimmt, was wir haben, aber nicht an dem, was wir sind und was wir fühlen. Um auf diese Ebene zu kommen, müssen wir Fragen stellen, die bis an die Grundlage des Menschseins gehen. Wir müssen neu nach dem Sinn unseres Lebens fragen. Wir müssen herausfinden, mit welchen möglichst einfachen Methoden wir sowohl unsere Grundbedürfnisse, als auch unsere Bedürfnisse nach Luxus befriedigen können. Die Dimensionen der ökologischen Krise, die wir überwinden müssen, sind so groß, dass wir sie durchaus mit einem Kriegszustand vergleichen können. So eine Krise verlangt eine hohe Bereitschaft zur Kooperation, sie verlangt eine neue Hierarchie der Werte. Über kurz oder lang betrifft das jeden. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht neu, die stellt sich jeder von Zeit zu Zeit. Neu ist der Ansatz, diese tiefen Fragen im Zusammenhang mit der ökologischen Krise zu stellen. Das ist etwas komplett neues und überraschendes. Und es wird einige Zeit dauern, bis jeder begreift, dass diese Fragen kaum weniger wichtig und kaum weniger persönlich sind, als die Frage, ob wir heiraten wollen und ob wir Kinder in die Welt setzen wollen.

Also ist ökologisches Engagement gleichzeitig eine Frage der persönlichen wie der kollektiven Entwicklung?


Es passiert nur in Beziehung. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könnte sich in sein Kämmerchen zurückziehen und etwas nur aus dem eigenen Ego heraus weiterzuentwickeln. Dieser ganze Ansatz beruht auf einem Feld-Denken. Dieses Feld hat viele verschiedene Dimensionen. Der einzelne Mensch ähnelt in diesem Feld nur einem kleinen Knoten in einem großen Netz. Im großen Feld ist er eine Unregelmäßigkeit, eine konzentrierte Ansammlung einiger weniger Beziehungsstrukturen. Die Besonderheit besteht darin, dass auf der menschlichen Ebene die Maschen dieses Netzes kleiner sind. Wir sind nichts absolutes, sondern in Beziehung zu allem anderen. Wenn unsere Selbstverwirklichung weiter gehen soll, müssen wir das anerkennen. Die Wahrscheinlichkeit, frustriert an eigene Grenzen zu stoßen oder die Identität zu verlieren, ist viel größer, wenn wir uns für absolut und halten. Das Identitätsproblem des modernen Menschen hängt damit zusammen, dass unsere Gemeinschaften in so einem schlechten Zustand sind. Dabei geht es nicht darum, unsere Identität in einem ganzheitlichen mystischen Brei zu verlieren. Das hat mit Tiefenökologie nichts zu tun. Sie sind einzigartig, ich bin einzigartig und wir werden auch dann einzigartig bleiben, wenn wir uns mit anderen Lebensformen identifizieren. Eine größere Identifikation führt keinesfalls dazu, dass wir unsere individuelle Persönlichkeit verlieren.

Geht eine Identifikation mit anderen Lebensformen über das Mitgefühl mit ihnen heraus?


Identifikation geht dem Mitgefühl voraus! Mitgefühl kann man nur empfinden, wenn man sich vorher mit etwas identifiziert. Nehmen wir eine Klassengesellschaft: Wenn man beigebracht bekommen hat, die niedrigere Klasse nicht als Teil der Menschheitsfamilie zu sehen, dann fehlt es uns an Identifikation. Wenn man ein Tier im Todeskampf beobachtet und sei es nur ein Insekt, dass mit den Beinen zappelt, dann kann man dabei sich selbst im Moment einer tödlichen Gefahr sehen. Wenn man sich auf diese Weise identifiziert, wird man automatisch bemüht sein, dem Tier zu helfen. Das nenne ich Identifikation. Um Solidarität, diesen so wichtigen Begriff im Sozialismus, zu wecken, muss man den anderen als gleichwertige Peson sehen können. Solidarität verlangt also Identifikation. Das ist für mich der Kernbegriff. Manche Leute sehen das anders. Sie reden von Mitgefühl oder Empathie. Heute geht es darum den Menschen, jung wie alt, dabei zu helfen, ihre Empathie zu entwickeln. Wenn wir den Sprung vom Mitgefühl zur Aktion schaffen, dann ist viel erreicht. Wenn man mitfühlt, ohne ins Handeln zu kommen, dann führt das in die Depression. Die tiefenökologische Bewegung will den Menschen dabei helfen, aus dem Gefühl der Depression angesichts der Verhältnisse zu Mitgefühl und Aktion zu kommen. Dann wird aus Traurigkeit Freude.

Wie also sollten wir mit schlechten Nachrichten und den viel zu langsamen Veränderungen umgehen? Wie kann Engagement von Freude getragen sein?


Wir müssen aufhören uns vorzustellen, dass der Holocaust und die ökologische Katastrophe gleich hinter der nächsten Ecke lauert. Viele Leute argumentieren immer noch so. Es kann durchaus sein, dass wir das 21. Jahrhundert ohne den großen Zusammenbruch durchstehen, auch wenn sich die Gesamtlage immer weiter verschlechtert. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass wir es im 22.Jahrhundert schaffen, immer weniger zerstörerisch zu werden. Aber auch im 21. Jahrhundert können wir in jedem Moment Freude empfinden. Wenn wir aufhören, ständig nur zu beschreiben, was alles verkehrt läuft und statt artikulieren, was wir in unserem kleinen Horizont alles tun – klein im Verhältnis zum ganzen System – dann empfinden wir Freude und genießen den Austausch. Tausende von Seiten mit schlechten Nachrichten werden täglich veröffentlicht. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für all das, was schon an Gutem passiert. Wir dürfen nicht jeden kleinen Schritt immer nur am großen Ziel messen. Selbst wenn die Auswirkung mikroskopisch ist, müssen wir uns gut dabei fühlen. Förderer der tiefenökologischen Bewegung sollten immer aus einer Haltung der Freude handeln.

Was ist also der nächste Schritt? Persönliche Weiterentwicklung oder politische Aktion?


Für manche ist es dies, für andere das. Die Front, an der wir kämpfen, ist lang. An manchen Abschnitten kann man vielleicht nicht dabei sein, ohne sich persönlich oder spirituell weiterzuentwickeln. Aber es gibt so viele Abschnitte, wo man unmittelbar handeln kann, ohne zu versuchen ein anderer zu sein, als der, der man ist, oder ein besserer Mensch mit besserer Moral. Der nächste Schritt hängt immer davon ab, wo man gerade steht. Und jeder hat seine Qualifikationen. Man sollte seinen Neigungen folgen und tun, was sich insgesamt gut anfühlt, anstatt angestrengt zu versuchen moralisch oder politisch ‚korrekt’ zu sein

In den letzten vierhundert Jahren hat uns die Naturwissenschaft ein Weltbild präsentiert, dass die Erde als einen toten Gesteinsbrocken zeigt, auf dem zufällig Leben entstanden ist, dass wie eine große Maschine funktioniert. Wie ist demgegenüber ihr Bild der Erde?


Für mich ist die Erde ein wunderbarer und außerordentlicher Planet, der sich enorm von seinen Brüdern und Schwestern im Sonnensystem unterscheidet. Er inspirierte mich, fast ein ganzes Leben an ihm zu forschen. Das System Erde, ich nenne es Gaia, ist vergleichbar mit einem lebenden Organismus. Ob es nun lebendig ist oder nicht hängt davon ab, wie man den Begriff Leben definiert. Sicher ist: Das System Erde reguliert seine Temperatur selbst, es regelt die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre selbst und tut all das auf eine Art und Weise, die dem Leben auf ihm einen angenehmen Platz bietet.

Wie funktioniert der Organismus Erde aus Ihrer Sicht?


Ich sehe die Erde oder Gaia folgendermaßen: Sie ist ein sich selbst regulierendes System, das sich kurz nach der Entstehung des Lebens gebildet hat. Passiert ist das wohl folgendermaßen: Wenn sich Organismen auf einem Planeten entwickeln und sich zahlenmäßig stark verbreiten, dann verändern sie - ob sie das wollen oder nicht - die Zusammensetzung der Atmosphäre, des Bodens und des Wassers. Indem sie das tun, verändern sie ihre Umwelt, das Klima, eigentlich alles. Und dann muss sich das Leben diesen veränderten Bedingungen anpassen. Lebewesen aller Art passen sich also nicht an eine tote Welt an, sondern an eine Welt, die ihre Vorfahren gerade erst gemacht haben.
Und auf diese Art entstehen große Rückkopplungsschleifen und Feedbacksysteme die entweder dazu führen, dass das ganze System zusammenbricht oder aber sich bei einer für das Leben angenehmen Temperatur stabilisiert. Wir hatten das Glück, dass das frühe System, das ich Gaia nenne, ein stabiles Gleichgewicht gefunden und erhalten hat und uns bis heute eine angenehme Umwelt bietet.

Können Sie ein Beispiel für den Aufbau von solchen großen Rückkopplungsschleifen nennen?


Ein schönes Beispiel sind die völlig unscheinbaren Blaualgen in den Meeren, die ganz wesentlich an der Regulierung des Wetters, des Weltklimas und der Nährstoffe im Boden beteiligt sind. Das war nicht von Anfang an so. Immer sind es kleine Schritte, die aufeinander aufbauen und irgendwann ein komplettes System ergeben. Begonnen haben wird es so: Weil Meeresalgen sich vor Salz schützen mussten, produzierten sie eine Substanz namens Dimethylsulfid, die nach ihrem Tod in die Atmosphäre gelangt, zu Schwefel und anderen Säuren oxidiert und winzige Tropfen bildet. Diese Schwefelnebel tun zweierlei. Sie werden über Land getrieben und versorgen die Pflanzen mit fehlendem Schwefel. Außerdem sind sie entscheidend für die Bildung von Wolken. Diese Wolken führen einerseits dazu, dass das Sonnenlicht reflektiert wird, das Meer sich abkühlt und so das Algenwachstum bremst. Gleichzeitig transportieren die Wolken den Schwefel zu den Kontinenten, wo sie abregnen und der Schwefel den Boden anreichert. Die Organismen, die im Ozean leben, wissen von all dem nichts. Was sie aber mitbekommen, ist, dass ihr zufälliges Produkt auf dem Festland das Pflanzenwachstum anregt, was mehr organisches Material in die Flüsse bringt und somit die Algen im Meer besser versorgt. Und schon ist eine weitere Rückkopplung da, die sowohl den Landpflanzen, als auch den Meeresalgen nutzt. Das ganze ist eine eng verknüpfte sich selbst regulierende Einheit. Sie funktioniert wie ein Prozess - das meine ich, wenn ich von der Evolution einer lebendigen Erde spreche. Es ist absurd, sich vorzustellen, dass sich alles unabhängig von einander entwickelt hat. Das ist ebenso absurd wie die Vorstellung, dass sich in unserem Körper die Knochen und das Skelett unabhängig vom Fleisch entwickeln könnte. Das geht nicht, denn es ist eins. Genauso ist es mit der Erde.

Die klassische Naturwissenschaft spricht von der Evolution des Lebens. Sie sprechen von der Evolution des Planeten. Wie muss man sich das vorstellen?


In der Urwelt des Archaikums hätten wir nicht leben können. Es gab keinen Sauerstoff, wir hätten keine Sekunde überlebt. Aber für die damals lebenden Organismen waren diese Verhältnisse gut und richtig. Das planetare System veränderte sich seitdem ständig selbst und wird sich weiter verändern, wenn wir schon längst wieder verschwunden sind. Ich glaube, es ist sehr wichtig anzuerkennen, dass diese Erde, an die wir uns während unserer Entwicklung angepasst haben, keine tote, leblose anorganische Erde ist, mit Steinen, Luft und Ozeanen als ihren leblosen Teilen. Sondern das wir uns vielmehr an den Atem, an das Blut und die Knochen unser Vorfahren anpassen. Das wäre die richtige Art, die Luft, die Meere und das Gestein wahrzunehmen.

Können Sie diesen Prozess, in dem das Leben selbst schrittweise die Voraussetzungen für seine Weiterentwicklung schafft, näher erklären?


Über die Details der Anfangsbedingungen können wir nur spekulieren. Aber wir wissen ziemlich sicher, dass die Erdatmosphäre wie auf dem Mars oder der Venus primär aus Kohlendioxid bestand. Dadurch entstand so etwas wie ein früher Treibhauseffekt, der die Erde warm hielt, das Wasser auf dem Planeten aufheizte und die Voraussetzung für die Entstehung ersten bakteriellen Lebens schuf. Dieses erste Leben ernährte sich vom Kohlendioxid der Atmosphäre und fraß sie nach und nach auf. Als sich die Erde daraufhin abkühlte und das frühe Leben gefährdete, entstanden andere Lebewesen, die wieder Kohlendioxid in die Atmosphäre gaben und das Gleichgewicht stabilisierten. Durch die Photosynthese der frühen Lebewesen füllte sich der Himmel mit Sauerstoff, der wiederum das Leben riskierte. Darauf hin entstanden Lebewesen, die den Sauerstoff nutzten. Außerdem führte der höhere Sauerstoffgehalt zur Oxidation der Gesteine, aus denen Mineralien herausgewaschen wurden, die für den Aufbau komplexer Lebewesen gebraucht wurden. Immer entstanden also aus Krisen neue Möglichkeiten. Das ging bis heute so weiter.

Wenn aus Krisen immer wieder neues entsteht, spricht das für eine große Selbstheilungskraft des Systems Erde ...


Tatsächlich ist die enorme Fähigkeit, sich von ernsten Krisen zu erholen, einer der interessantesten Fähigkeiten von Gaia. Es gab seit dem Beginn des Lebens nicht weniger als 30 solcher lebensgefährlichen Katastrophen. Jede davon hat bis zu 70 % der damals existierenden Lebewesen getötet, manchmal starben sogar 90 %. Also stehen wir einem System gegenüber, dass sich nicht nur selbst reguliert, sondern sich auch selbst heilt.

Heißt das, wir brauchen eine neue Definition von „Krise“?


Ja, ich glaube, wir müssen den Begriff der Krise auf zwei Arten sehen. Einmal als einen menschlichen Begriff, einen Begriff menschlicher Zivilisationen. Und wir müssen Krise als einen Zustand des planetaren Lebensprozesses und seiner Zukunft verstehen. Die Bedürfnisse dieser beiden organischen Systeme stehen fast im Gegensatz zueinander. Was gut für den Planeten sein mag, dürfte manchmal recht ekelhaft für die menschlichen Zivilisationen sein und umgekehrt. Das ist ein tiefer Konflikt. Und ich hoffe - auch wenn ich es in meiner Lebensspanne nicht mehr erwarte - dass wir es schaffen, eine Art des Umgangs mit dem Planeten zu finden, wo dieser Konflikt gelöst werden kann. Aber wenn ich mir die Hoffnungslosigkeit unserer Versuche anschaue mit uns selbst, geschweige denn mit dem Planeten zu leben, dann bin ich da nicht sehr optimistisch. Ich tendiere deshalb zu der Sichtweise, dass wir als Zivilisation, ebenso wie Gaia, mit so einer Krise konfrontiert werden. Menschen sind eine zähe Spezies, ebenso wie der Planet ein zäher Organismus ist. Und es wird überall viele Menschen geben, die so eine Krise überleben, was auch immer passiert. Und die Zivilisation wird wieder ganz von vorne anfangen müssen.

Wenn wir uns die Erde als einen großen Organismus vorstellen, liegt dann nicht auch der Schluss nahe, dass dieses Lebewesen auch ein eigenes Bewusstsein hat?


Es ist ein völlig unbewusster Prozess. Auch der Mensch reguliert seine Temperatur nicht durchs denken. Der Körper tut es unbewusst und automatisch auf eine Art, die der von Gaia sehr ähnlich ist. Man sollte es sich nicht so vorstellen, als seien es die Organismen oder das Leben selbst, die den ganzen Planeten regulieren. So ist es nicht. Es ist das ganze System, das sich selbst im Gleichgewicht hält - das ist was ganz anderes. Es ist ein sich entwickelndes System, in dem alle lebenden Organismen - von der Bakterie bis zu uns Menschen - unbewusst mit einer sich ebenso entwickelnden Umwelt kooperieren, also mit dem Gestein, der Luft und den Ozeanen. Wenn die meisten Organismen in einer Kooperation mit dem planetaren System leben, dann machen sie das nicht mit bewusster Absicht oder weil das Universum es ihnen eingegeben hätte. Die Grundregel ist viel rücksichtsloser: Organismen, die das Spiel der Kooperation und wechselseitigen Anpassung nicht mitspielen, sterben aus. Die Organismen, die die meisten Nachkommen hinterlassen, sind erfolgreich. Der einzigen Unterschied, den Gaia macht, lautet: Jeder Organismus, der die Umwelt für seine Nachkommen verbessert, wird aufblühen, während jene Organismen, die dabei versagen und sie verschmutzen oder zerstören, aussterben werden. Das ist eine große Warnung an uns, denn im Moment gehören wir Menschen eher zur zweiten Kategorie als zur ersten.
Die alte griechische Gottheit Gaia und interessanterweise auch die Hindu-Göttin Kali hatten die gleichen Charakteristika: Sie waren weibliche, freundliche und nährende Göttinnen, aber wer gegen die Regeln verstieß, wurde eliminiert. Und es ist interessant, dass die wissenschaftlichen Regeln der Gaia-Theorie den uralten Regeln dieser Göttinnen so ähnlich sind. Vielleicht war mein Freund, der Schriftsteller William Golding vorausahnender als er dachte, als er für die Theorie über einem planetaren Organismus den Namen „Gaia“ vorschlug.

Wenn die Natur - so wie sie das in ihrer Theorie beschreiben - von selbstregulierenden Prozessen und Autopoesie charakterisiert werden, was bedeutet das für unsere sozialen Systeme und unsere Gesellschaften?


Da geraten wir schnell aufs Glatteis. Genau wie es im letzten Jahrhundert passiert ist, als ein Paar politisch engagierte Leute Darwins Sichtweise annahmen und daraus den Sozialdarwinismus formten. Sie beschrieben die Natur als ein gebrauchsfertiges Regelwerk, dass es den Unternehmern erlaubte, skrupellos und ohne Rücksicht auf Konsequenzen zu handeln, weil die Natur angeblich skrupellos und rücksichtslos sei. Ich glaube, wenn man das Gleiche mit der Gaia-Theorie macht, dann kommt man zu so unsinnigen Aussagen, dass es ganz egal sei, wie viel Müll wir in die Gegend werfen, weil der sich selbst regulierende Planet es schon wieder aufräumen wird. Doch so arbeitet das System nicht. Gaia, das organische System Erde, ist nicht da, um unseren Müll aufzuräumen. Wir sind ein Teil von Gaia, ein Teil des Ganzen und können uns nicht davon abtrennen. Was wir tun, wird im wesentlichen auf uns und auf unsere Zivilisationen zurückfallen, viel mehr als auf das große System selbst. Man darf nicht vergessen, dass Gaia, dieser langsam entstandene planetare Organismus, im Wesentlichen vom Zusammenspiel der Mikroorganismen gesteuert wird. Die großen Dingen wie Wale oder Bäume spielen da kaum eine Rolle. Alle wir komplexeren Organismen sind die jüngsten Entwicklungen der letzten 600 Millionen Jahre. Das große System wurde und wird durch Bakterien am Leben erhalten.

Sie vertreten da ein Konzept, dass sehr an den Stolz des Menschen geht. Wir haben da ja schon einiges aushalten müssen. Die Wissenschaft hat uns gesagt, dass wir nicht mehr der Mittelpunkt des Universums sind, und unser eigenes Bewusstsein kaum kennen. Und jetzt sagen sie, jede Bakterie ist für die Erde wichtiger als wir. Können das die Menschen akzeptieren?


Ich glaube, ein Minimum an Stolz brauchen wir als Stütze. Wir brauchen das Gefühl, einen Platz in der Ordnung der Dinge zu haben. Sonst wären wir verloren, allein im Universum, sinnlos, ein furchtbarer kosmischer Witz. So sehe ich uns ganz und gar nicht. Wir sind Organismen in diesem großen Ding namens Gaia und müssen uns für unsere Taten verantworten. Also ist es umgekehrt sogar so, dass Gaia uns etwas bietet, was uns die Wissenschaft entzogen hat. Nämlich eine Art größeres Sein außerhalb von uns, dass uns das Gefühl gibt, zu etwas zu gehören. Uns ein Gefühl gibt für gut und schlecht, dass die Wissenschaft uns fast entzogen hat. Wenn also durch den zu großen wissenschaftlichen Erfolg die herkömmliche Religion verdrängt wurde, dann könnte Gaia aus der postmodernen Wissenschaft etwas sein, was diese Lücke ausfüllt.

Wenn wir uns als Teile eines Superorganismus namens Gaia sehen, kann trotzdem schnell ein Gefühl der eigenen Nichtigkeit entstehen ...


Die Existenz von Gaia ist zwar nicht von den einzelnen Organismen abhängig, aber die Evolution als ganzes geht immer vom einzelnen Lebewesen aus und wirkt auf das Ganze. Es ist nie das ganze, was sich verändert, sondern immer das Individuum. Das ist genau der Punkt, wo sich Reduktionismus und Ganzheitlichkeit berühren. Der Reduktionismus beschäftigt sich mit dem Verhalten und der Wirkung von Individuen, der Einzelelemente und Zellen. Der Holismus beschäftigt sich mit dem Prozess des Ganzen, dem Zusammenspiel der Teile miteinander und mit der Umwelt.

Also sehen sie keinen Widerspruch zwischen ganzheitlichem und reduktionistischem Denken.


Auf gar keinen Fall gibt es da einen Widerspruch. Wir brauchen sie beide, um die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Wir sind da nur menschlich, wenn wir uns zwischen den beiden Ansätzen hin- und herbewegen. Im 18. Jahrhundert war unsere Wissenschaft ganzheitlich, jetzt ist sie primär reduktionistisch, aber wir sind wieder auf dem Weg in eine holistische Phase. Es wäre schön, wenn wir beides zusammenbringen könnten, aber ich glaube wir tendieren dazu, hin- und herzuspringen. Ich glaube, dass es gar nicht schwer ist, reduktionistische und ganzheitliche Wissenschaft zusammenzubringen. Es ist vielmehr völlig natürlich.

Können sie ein Beispiel für den Ansatz nennen, der vom Ganzen ausgeht?


Probleme ganzheitlich anzugehen liegt in unserer Natur. Wenn wir einer anderen Person begegnen - sei es jemand den wir lieben, ein Feind oder jemand von dem wir etwas brauchen - betrachten wir ihn nie reduktionistisch. Wir würden nie überlegen, wie wohl sein Blut durch den Körper gepumpt wird, wie sich seine Temperatur regelt oder wie andere Details funktionieren. Was wir wahrnehmen ist die ganze Gestalt, den ganzen Menschen und unser Gehirn bildet sich sofort eine Meinung über ihn. Lebewesen stellen so fest, ob - ganz biologistisch gesprochen - das Gegenüber freundlich, essbar oder tödlich ist. Wir konnten uns nur entwickeln, weil wir diese Unterscheidungen treffen können. Und sie funktioniert ganzheitlich, das ist ein holistischer Ansatz zur Problemlösung. Und hier ist das Problem wirklich existentiell, denn wenn die Antwort nicht stimmt, ist man schnell derjenige, der gefressen wird.

Wenn Sie vom Leben Gaia’s sprechen, ist ja mit 4 oder 5 Milliarden Jahren die Rede von enormen Zeiträumen Das reicht weit hinaus über unser normales Zeitbewusstsein. Ist unsere Kultur vom Lauf der Zeit abgeschnitten?


Wir vergessen häufig, wie enorm kurz der Zeitraum der menschlichen Existenz auf der Erde ist. Wir sind seit vielleicht 2 Millionen Jahren hier. Das ist weniger als ein Tausendstel der bisherigen Lebensspanne des Planeten - also ein winziges Stück Zeit. Und Zivilisationen gibt es in der Geschichte des Lebens erst seit einem Augenblick. Ich frage mich oft, wie lange Zivilisationen überhaupt bestehen können. Einer der unheilvolleren Gedanken basiert darauf, dass wir noch keine Signale aus dem Weltraum empfangen haben, seit wir ihn mit hochempfindlichen Antennen abhören. Eine Antwort darauf könnte sein, dass es auf diesen unzähligen Milliarden anderer Planeten zwar Leben gibt, aber die Lebensspanne von Zivilisationen sehr kurz ist.

Wenn wir von der Evolution des Organismus Erde sprechen, dann lässt sich das ja auch wie die Biographie eines Lebewesens verstehen. In welchem Entwicklungsstadium befindet sich denn die Erde heute.


Es war fast so etwas wie ein embryonaler Zustand, als die Erde ohne Sauerstoff war. So als hätte sie in einer selbstgemachten Gebärmutter gelebt. Dann kam die Zeit der mikrobischen Mehrzeller als der Sauerstoffanteil wuchs, vergleichbar mit der Lebensform eines Babys. Jetzt, wo die großen Dinge entstanden sind, sind wir wohl in der Kindheit und stehen jetzt an der Schwell zum Erwachsensein. Wie die Jugend und das Erwachsensein aussieht, weiß ich nicht.

In manchen Kreisen ist die Gaia-Theorie so etwas wie ein Religionsersatz geworden, vielleicht auch eine Art wissenschaftliche Basis für naturreligiöse animistische Glaubensrichtungen. Beteiligen Sie sich an dieser theologisch-religiösen Diskussion?


Ich fühle mich überhaupt nicht wohl, wenn ich zu diesem Themenkomplex etwas sagen soll. Ich empfinde es als eine große Hybris, mich in diesen Aspekt der Sache einzumischen. Meine Aufgabe als Wissenschaftler ist es, herauszufinden, wie der Planet funktioniert und die entsprechenden bestmöglichen Theorien zu entwickeln. Wenn diese Theorien dann irgendetwas beinhalten, was die Möglichkeit eröffnet, dass sich die Menschen in ihrer Existenz auf diesem Planeten wohler fühlen, dann ist das ganz in Ordnung so. Und es wäre auch ein wunderbares Resultat. Aber es muss von alleine passieren. Ich glaube nicht, dass ich mich hinstelle und beginne, so etwas zu predigen. Das wäre völlig daneben.

Die Flut der Weltuntergangsszenarios wächst. Bedeutet das, dass die westliche Zivilisation beginnt, die ihr innewohnenden Gefahren wahrzunehmen oder glauben sie, diese Szenarios haben keine Wirkung?


Ich wäre froh, wenn ich das wüsste. Ich vergleiche unsere jetzige Situation immer mit dem Europa der 30er Jahre kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Wir alle ahnten, dass ein Krieg kaum zu verhindern war. Das folgte dem Gesetz der Stammesgesellschaften, zu der wir schließlich gehören und der wir uns auch schwerlich entziehen können. Und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Wer deutlich auf die Entwicklung hinwies, galt als finsterer Pessimist und wurde nicht sonderlich ernst genommen. Und doch ahnten wir alle tief innen, dass irgendetwas Übles passieren würde. So war es ja dann auch. Ich glaube, dieses sehr allgemeine Gefühl des Unwohlseins ist heute wieder weit verbreitet. Die Menschen kennen nicht die Natur der Katastrophen oder Desaster, die möglicherweise vor uns liegen. Aber sie sind sich ziemlich sicher, dass wir nicht so ohne weiteres davonkommen werden, weil sie uns sehr bald erwischen können.

Beschäftigt sich unsere Kultur denn eigentlich mit den wirklich wichtigen Themen? Findet über die Tatsache, dass wir die Atmosphäre aus dem Gleichgewicht bringen und auf dem Weg in eine globale Krise sind, findet darüber ein angemessenes Maß an Auseinandersetzung statt?


Unser Problem ist wirklich, dass wir in dieser alten Stammeskultur gefangen sind. Wir können uns nicht absichtsvoll in eine bestimmte Richtung bewegen, solange sich nicht der ganze Stamm darauf geeinigt hat. Bis dahin sind wir nur eine ziellos schnatternde Gruppe, in der alle möglichen Positionen und gegensätzlichen Ideen zirkulieren. Wenn es aber irgendwie im kollektiven Bewusstsein des Stamms zu der Erkenntnis kommt, dass ein bestimmter Schritt notwendig ist, kann es zu rasanten Veränderungen kommen. In der Regel passiert das vor einem Kriegsausbruch oder als Reaktion auf eine äußere Bedrohung. Ich hoffe darauf, das die bevorstehende globale ökologische Krise so eine Art Reaktion des globalen Stamms provoziert, vergleichbar mit der Reaktion auf eine territoriale Aggression. Wenn es zu einer kollektiven Reaktion kommt, dann haben wir eine Chance, dann könnten wir für eine Menge Fragen Antworten finden. Aber es werden nicht irgendwelchen bedeutungsschwere Worte sein, die diese Reaktion auslösen können. Es muss irgendwas passieren, irgendeine Überraschung, irgendein Desaster ausreichender Größenordnung, die den Leuten rund um den Globus deutlich macht, dass sie wirklich bedroht sind und besser was dagegen unternehmen sollten.

Bedeutet das, dass unser scheinbar wachsendes Umweltbewusstsein sich eigentlich weniger um den Schutz der Natur dreht, als vielmehr um unser eigenes Überleben?


Nun, das ist nur menschlich. Mich amüsiert es immer, wenn ich zu einer Versammlung von Grünen gehe und feststelle, dass alle mit dem Auto gekommen sind. Wir verhalten uns nicht entsprechend unserer Überzeugungen, auch das ist menschlich. Und es braucht eine wirkliche Bedrohung, um das zu ändern. Und bis dahin wird halt geschnattert: „Es ist schrecklich, da muss doch was passieren“ oder: „Nächstes Jahr unternehme ich etwas dagegen“ - und dann wird das Thema beiseite geschoben und vergessen. Im Leben läuft das ganz genauso. Jeder, der raucht kennt das. Ich habe geraucht als ich jünger war, weil alle rauchten und obwohl ich als Mediziner wusste wie schädlich es ist. Und was habe ich gemacht? Ich habe mir gesagt, ich hör damit auf, wenn ich Zeit dafür habe. Ich brauchte einen Herzinfarkt, um den Ernst der Lage zu begreifen - dann habe ich aufgehört. Was der Planet braucht, ist ein Herzinfarkt. Keinen, der alle umbringt, aber einen der uns aufweckt.

Müssen wir uns bremsen, weniger konsumieren, unsere Bedürfnisse und Wünsche reduzieren?


Im Moment haben wir keine Wahl. Die Erde ist so dicht besiedelt und wir verbrauchen so immens viel ihrer Ressourcen. Ich glaube, 60% der von Pflanzen durch Photosynthese hergestellten Produkte verbrauchen wir heute für unsere Zwecke. Das ist jetzt schon zuviel. Wenn sich die Erdbevölkerung verdoppelt, liegen wir jenseits der Grenze der Belastbarkeit. Wir müssen uns einfach weniger an materiellen Besitztümer orientieren und mehr an Lebensqualität. Wir haben in unseren beiden Ländern, Deutschland und England, die Zeit des Krieges erlebt und wissen mit welchen Entbehrungen sie verbunden war. Trotzdem hat uns der Mangel an Gütern nicht notwendigerweise unglücklicher gemacht. Im Gegenteil: Viele erinnern sich gerne an diese Zeiten, weil ihr Leben mehr Sinn hatte und sie trotz der unglaublichen Entbehrungen mit sich zufriedener waren. Ich glaube, dass der Lebensstandard in Teilen von Deutschland und England während des Zweiten Weltkrieges nicht viel besser war wie in der Dritten Welt heute. Wenn wir damals unter solchen Bedingungen leben konnten, wie viel leichter sollte es uns dann in Friedenszeiten und mit dem Bewusstsein fallen, dann endlich in Einklang mit dem Planeten zu sein.

Wenn man einen so komplexen Ansatz wie die Gaia-Theorie hat, entsteht da nicht schnell das Problem, keine exakten Aussagen mehr machen zu können. Besteht bei der großen Menge der möglichen Interpretation von Fakten in diesem Riesensystem nicht die Gefahr von Falschaussagen?


Ich stimme da völlig mit Ihnen überein. Wissenschaftler können nie - sei es nun Gaia oder Ihr Körper - Systeme wirklich erklären. Das geht nicht. Alles was sie machen können, sind Modelle von Systemen. Das lässt sich vielleicht mit Karikaturen vergleichen. Wenn ein Künstler mit einem Strich das Gesicht eines Politikers skizziert, dann stellt er auch nicht die ganze Person dar. Und so ist es auch mit unseren Modellen von der Welt. Selbst wenn sich in der wirklichen Welt einmal beweist, dass es sich bei der Erde um ein System wie Gaia handelt, ist doch alles, was wir heute herstellen nur Karikatur, nur eine grobe Zeichnung. Natürlich kann sie im Detail falsch sein.

Steht Gaia im Mittelpunkt des Modells, dann verliert der Mensch seine Stellung auf dem Schöpferthron. Ist er gar, wie vielfach behauptet, für die Erde eine Art Krebszelle, den Superorganismus zerstört?


Ich glaube, das ist ein schrecklicher Vergleich. Und sehr unzutreffend. Wir sind Teil des Systems. Und wir haben die Chance, es gut oder schlecht zu machen. Wir können Gaia weder wachsen lassen, noch zum Verschwinden bringen. Wenn wir die Umwelt verändern, sind wir es, die leiden. Nein, der Mensch ist auf diesem Planeten so natürlich, wie jedes andere Lebewesen. Und die Regeln des Gesamtsystems treffen ihn so, wie alle anderen. Im Moment verschlechtern wir eben die Lebensbedingungen für unsere Nachkommen. Und die Regel sagt deutlich, daß wir aussterben, wenn wir so weitermachen, während das System fortbesteht.

macy

Geseko von Lüpke im Gespräch mit Joanna Macy

Wie würden Sie den Zustand der heutigen Welt beschreiben?


Wir erleben die letzten Jahre eines Wirtschaftswunder-Systems, dass enorme Auswirkungen auf den gesamten Planeten hat. Es gibt keine Region und keine Kultur, die dagegen immun ist. Und dieses industrielle Wachstumssystem, basierend auf einer ständigen Ausbeutung der Rohstoffe und immer mehr Abfall, zerstört die lebenserhaltenden Systeme dieses Planeten für menschliche, wie für nicht-menschliche Wesen. Wir befinden uns also in einem Prozess der völligen Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Unabhängig von dem, was wir an diesem Punkt dagegen tun, ist es sicher, dass künftige Generationen dazu verdammt sein werden, in einer schwer geschädigten Umwelt zu leben.

Wie reagieren wir auf diese Situation?


Mit Angst! Das ist heute so und war schon immer so. Die Menschen merken, dass sich enorm viel verändert und reagieren verstört. Diese Angst äußert sich meist auf zwei Arten. Sie führt zu Panik, zu irrationalem Verhalten, die Menschen werden aggressiver und wollen sich schützen. Die soziale Hysterie wächst und äußert sich in religiösem Fundamentalismus, in Nationalismus, und Fremdenfeindlichkeit. Oder sie reagieren auf die Angst in einer andere oberflächlichen Art und Weise, die ganz eng damit zusammenhängt: Sie fühlen sich gelähmt gegenüber allen politischen und sozialen Problemen. Und das bedeutet: Sie machen dicht!

Wo liegen die Wurzeln dieser Krise?


Ich glaube, dass die Krise, in der wir uns befinden, im Kern geistiger Natur ist. Es ist wie eine Krankheit, die die Kultur ergriffen hat. Sie führt dazu, dass wir unsere tiefsten Werte völlig in Frage gestellt haben und nicht mehr wissen, woran wir uns orientieren sollen. Man kann auch von einem moralischen Kollaps sprechen, der darauf beruht, dass die Beziehung zwischen uns und den Dingen und Wesenheiten in unserer Mitwelt zusammengebrochen ist. Unsere Gesellschaft krankt an ihrem Anthropozentrismus. Durch ihn verstehen wir uns als Krone der Schöpfung und als Mittelpunkt der Welt. Dabei ist der vielleicht größte Mangel unserer Kultur eine wirklich inspirierende Vision einer gesunden Beziehung zwischen uns und der uns umgebenden Welt.

Worin besteht ihrer Meinung nach heute die größte Gefahr?


Ich glaube, dass von all den Gefahren die uns drohen - sei es der Militarismus, die Umweltverschmutzung, die Überbevölkerung oder das Artensterben - keine Gefahr so groß ist, wie unsere Verdrängung. Denn dann passiert all das unkontrolliert. Selbstorganisierende Systeme, ob es nun eine Gemeinde, ein Planet oder eine Nation ist, korrigieren Fehlentwicklungen durch Rückkopplung oder Feedback. Und eine Verweigerung blockiert das Feedback. Jedes System, daß seine Rückkopplung abblockt, begeht Selbstmord. Jedes System, das sich weigert, die Konsequenzen seines Handelns zu sehen, ist selbstmörderisch.

Wie kommt es zu dieser gefährlichen Verdrängung?


Wir haben Angst. Wir glauben, so zerbrechlich und klein zu sein, dass es uns in Stücke reißt, wenn wir es uns erlauben, unsere Gefühle über den Zustand der Welt anzuschauen. Wir fürchten eine tiefe Depression oder Lähmung. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir es aussprechen, merken wir, dass wir nicht isoliert sind, sondern das dieser Schmerz weit hinausgeht über das kleine Ego und Konsequenzen hat, die jenseits unserer individuellen Bedürfnisse und Wünsche liegen. Wir erfahren dann nämlich eine Art größerer Identität. Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt fühlen unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann wird er zum lebendigen Beweis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Und er befreit unsere Hilfsbereitschaft. Ich bin in dieser Arbeit zu der Erkenntnis gekommen, dass unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt untrennbar miteinander verbunden sind. Das sind nur zwei Seiten derselben Münze.

Was können wir tun, wenn die herkömmliche Art, die Welt wahrzunehmen und zu verstehen, vor dem Bankrott steht?


Diese Einsicht ermöglicht gleichzeitig, uns für ein sehr viel größeren Verständnis des Lebens zu öffnen. Der Kern dieser neuen Sichtweise liegt darin, die Welt in einem größeren lebendige Kontext wahrzunehmen: Unsere Stellung in der Welt verändert sich grundlegend, wenn wir sie als ein lebendiges System verstehen und uns selbst als einen Teil eines im weitesten Sinne lebendigen Erdkörpers definieren. Diese für immer mehr Menschen selbstverständliche Perspektive hat dramatische Folgen für die Art unserer Beziehung zur Welt, für unsere Kreativität, für unsere Lebensqualität und für unser inneres und kollektives Wachstum. Sie mag - angesichts der herrschenden Probleme in der Welt - visionär und verträumt wirken, kommt jedoch längst in unseren modernen Kulturen zum Ausdruck.

Wo sehen eine solche Entwicklung?


Auf drei wesentlichen Ebenen: Einerseits hat die Tatsache, da wir erstmals in der Geschichte der Menschheit mit der selbstverursachten Zerstörung der biologischen Lebensgrundlagen konfrontiert sind, die Chance eines Wandels erhöht. Keine Generation vor uns war mit derartig umfassenden Fragestellungen und Bedrohungen konfrontiert. Als eine Gattung, die - wie alle anderen - darauf programmiert ist, sich fortzupflanzen, kann die "Überlebensfrage" den Druck erhöhen, alte Denk- und Verhaltensmuster in Frage zu stellen und neue Konzepte zu akzeptieren. Zu keiner Zeit der Menschheit war das Wissen um die globalen Konsequenzen eines reduzierten, isolierten und abgetrennten menschlichen Selbstbildes so groß und der Bedarf an neuen "verbundenen" Sichtweisen so hoch wie heute.
Zudem versorgt uns die moderne Wissenschaft seit einigen Jahren mit schlüssigen Theorien und konzeptionellen Denkmustern, die uns wie Werkzeuge dabei unterstützen können, die konventionellen Vorstellungen einer klaren Grenzlinie zwischen dem Individuum und der Umwelt aufzubrechen. Die vielen Forschungsansätze in der Biologie, Physik, Chemie und Genetik, die das Geheimnis des Lebens entschlüsseln wollen, kommen ebenso wie die systemtheoretischen Ansätze zu dem Ergebnis, dass die klassische Trennlinie unseres Denkens zwischen der Person einerseits und ihrer Umwelt andererseits künstlich sind und dass es sich beim Leben stattdessen um einen wechselseitigen "interaktiven Prozess" handelt. Zum Dritten haben alle großen religiösen Traditionen damit begonnen, sich wieder mit den Wurzeln einer ganzheitlichen, "nicht-dualistischen" Spiritualität zu beschäftigen, wo die scharfe Trennlinie zwischen dem individuellen Selbst und der ihn umgebenden Welt ebenso verschwimmt wie zwischen Gott und Mensch, Innen und Außen, Himmel und Erde.

Fangen wir mit der dritten Ebene an: Welche Wirkung kann eine solche Spiritualität politisch haben?


Statt einer nur nach innen gerichteten Versenkung entsteht damit eine "sozialen Mystik", in der Meditation und soziale oder ökologische Aktion eins werden. Diese Ansätze sind ein wesentlicher Zweig im Buddhismus, waren schon immer im islamischen Sufismus vorhanden und tauchen unter dem Begriff der Schöpfungsspiritualität nun auch verstärkt im Christentum auf. Immer mehr Menschen beginnen sich zudem für die erdverbundenen Weisheiten indigener Völker zu interessieren, weibliche Spiritualität entdeckt in den Traditionen uralter Mutter-Göttinnen fast verlorene ganzheitliche Konzepte. All diese Sichtweisen betonen die lebendige Heiligkeit der Welt. Der Weg geistiger Suche wird hier nicht länger als eine Flucht aus der schlechten Welt in irgendeinen paradiesischen Himmel angesehen. Vielmehr wird hier die Welt selbst zum Kloster, die Welt selbst als Arena einer geistigen Transformation verstanden, die Welt selbst zum geistigen Lehrer oder gar zum heiligen Ort.

Sie sprachen von neuen wisenschaftlichen Theorien, die uns Konzepte für ein neues Weltbild geben könnten. Wo berühren sich die ganzheitlichen Ansätze aus Religion und moderner Naturwissenschaft?


Die ganzheitlichen Ansätze in Wissenschaft oder Theologie betonen im Kern in immer wieder neuen Ausdrucksformen die wechselseitige Verbundenheit des Menschen mit dem Leben und allem, was existiert. Besonders die wissenschaftlichen Einsichten der modernen Allgemeinen Systemtheorie sind für den westlichen Menschen geeignet, die neuerliche Entdeckung dieses Miteinander-Verbundenseins verständlich zu machen. Bis in unser Jahrhundert war die klassische westliche Wissenschaft von der Annahme ausgegangen, dass man die Welt verstehen und unter Kontrolle bringen kann, indem man sie in immer kleinere Stücke aufspaltet, dabei den Geist von der Materie, die Organe vom Körper, die Pflanzen von ihren ökologischen Systemen trennt und jedes Teilstück für sich untersucht. Wir haben viel dadurch lernen können, aber auch wesentliche Fragen nicht gestellt, nämlich wie die Einzelteile zusammenwirken und kooperieren, um das Leben als Ganzes zu erhalten. Immer mehr Wissenschaftler begannen deshalb damit, mehr das Ganze anstelle der Teile, mehr Prozesse anstelle von isolierten Substanzen zu betrachten. Was sie dabei entdeckten war, dass dieses Ganze - ob es sich um Zellen, Körper, Ökosysteme oder sogar den Planeten selbst handelt, nicht nur aus einem Haufen einzelner unverbundener Teile besteht, sondern aus dynamischen, kompliziert organisierten und ausgewogenen Systemen, die miteinander in Beziehung stehen und bei jeder Bewegung, jeder Funktion und jedem Energieaustausch wechselseitig voneinander abhängen. Sie stellten fest, dass jedes Element Teil eines größeren Musters ist, das sich aufgrund von erkennbaren Prinzipien verbindet und entwickelt und fassten diese Regeln in der Allgemeinen Systemtheorie zusammen.

Der Begriff des Systems scheint zum neuen Schlüsselwort zu werden ...


Diese systemische Betrachtungsweise der Wirklichkeit wird von vielen Denkern zumindest als die größte und weitreichendste kognitive Revolution unserer Zeit angesehen. Der Anthropologe Gregory Bateson nannte sie "den größten Bissen vom Baum der Erkenntnis seit 2000 Jahren". Denn die systemische Sichtweise hat die Linse verändert, durch die wir die Realität sehen. Anstatt beliebige getrennte Einheiten wahrzunehmen, werden wir uns heute mehr und mehr verbindender Ströme bewusst - den Strömen von Energie, Materie und Information. Und Lebewesen werden in diesen Strömen als dynamische Muster im Netz des Lebens wahrgenommen. Die neue Sichtweise, die die Systemtheorie uns anbietet, trägt der biologischen Tatsache Rechnung, dass wir offene Systeme sind, die in ständigem Austausch mit ihrer Um- und Mitwelt leben und überleben. Durch Interaktionen formen sie Beziehungen, die ihrerseits wieder die Umwelt selbst gestalten.

Diese Sichtweise widerspricht doch aber eigentlich zutiefst unserem individuellen Selbstverständnis!?


Nur auf den ersten Blick. Tatsächlich hat die moderne westliche Welt jedem ihrer Bewohner durch Erziehung, Schule und den Alltagserfahrung in einer konkurrenzbetonten Welt die Überzeugung mit auf den Weg gegeben, ein abgetrenntes und isoliertes Individuum zu sein. Die Menschen leben in der Wahrnehmung, sich als allein stehende Einzelwesen in einer Welt behaupten zu müssen, stärker sein zu müssen als andere, Macht erringen und ausüben zu müssen und sich gegenüber der Macht und Aggression anderer schützen und verteidigen zu müssen. Anstatt uns selbst als veränderbare offene Systeme zu begreifen, haben wir in unseren privaten Beziehungen, in unserem wirtschaftlichen Verhalten und in unserer zwischenstaatlichen Politik einer entsprechenden Burgmentalität untergeordnet, die in unserem Privatleben zu Verhärtung, im wirtschaftlichen zur Konkurrenz, Macht- und Gewinnsucht und im politischen zum Kalten Krieg geführt hat.

Wie verändert die neue systemische Sichtweise unser Weltbild?


Während wir uns bislang in Isolation und Konkurrenz erlebten und ohne eigentliche Verbindung zueinander, entsteht durch diese Sichtweise ein ganz anderes Bild der Wirklichkeit. Das was wir bislang als das Wesentliche annahmen - nämlich die einzelnen Individuen, Objekte und Teile - tritt buchstäblich in den Hintergrund, während jene unsichtbaren Prozesse, die wir bisher für unwichtig oder nicht existent hielten, plötzlich in den Vordergrund unserer Wahrnehmung treten. Was vorher als abgetrennte Objekte wirkte, zeigt sich nun als dynamische offene Strukturen in einem größeren System. Statt der Objekte oder Individuen treten nun die Beziehungen, in den Vordergrund. Haben wir die Welt bislang in ihrer Aufspaltung in Gegensätzlichkeiten wahrgenommen, in denen die Substanz vom Prozess, das Selbst von den Anderen und der Gedanke vom Gefühl getrennt wurde, so haben diese Zweiteilungen angesichts des Wissens um die miteinander verwobenen Interaktion offener Systeme keinen Bestand mehr. Was bisher wie getrennte, für sich allein existierende Einheiten erschien, erweist sich nun in so hohem Maße miteinander verbunden, dass seine Grenzen nur willkürlich gezogen werden können. Was als das "Andere" erschien, kann auch als Erweiterung ein- und desselben Organismus betrachtet werden, wie eine "Mit-Zelle" in einem größeren Körper.

Welche Konsequenzen hat das für unser Selbst- und Menschenbild?


Die Konsequenzen sind nicht nur für unser Selbst- und Weltbild dramatisch, sondern auch für unsere Stellung, Aufgabe und Verantwortung in der Schöpfung als Ganzes. Wir entdecken sie erst nach und nach. Verstehen wir die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes und uns als integralen Bestandteil davon, dann springen wir damit auf eine neue Ebene der Erfahrung, des Bewusstseins, der Wahrnehmung von der Natur der Wirklichkeit und unseres Verhaltens in ihr.
Mit diesem neuen Muster für unsere Wahrnehmung haben wir quasi die Möglichkeit, uns als lebender Teil eines lebenden Körpers zu begreifen. Als offene und denkende Systeme schaffen wir, obwohl jedes individuelle Bewusstsein nur einen kleinen Abschnitt erhellt, eine kleine Schlinge im großen Gewebe des Fühlens und Wissens. Als offene Systeme sind wir an der Schöpfung der Welt beteiligt. Wenn unser Bewusstsein und Wissen wächst, so erweitert sich auch das Bewusstsein und Wissen des Netzes. Es scheint, als seien wir Teil eines größeren Bewusstwerdens. Das Netz des Lebens trägt uns und ruft uns dazu auf, weiter an ihm zu knüpfen. Psychologisch bewirkt dieser Perspektivenwechsel einen Wandel vom Gefühl der Isolation und Angst hin zu Vertrauen. Statt das ganze System zu dominieren um mühsam die Kontrolle zu behalten, kommen wir in dieser Wahrnehmung dazu, wirklich am Ganzen teilzunehmen. Er ermöglicht einen Wandel weg von strikt vorgegebenen Zielen hin zu einer Freiheit, in der wir unsere Ziele sich mit den immer neu entstehenden Möglichkeiten entfalten lassen können. Es ist ein Wechsel von einer kontrollierenden hin zu einer annehmenden Haltung, die die Vielfalt der Realität begrüßt und zu nutzen weiß. Und es ist ein geistiger Wandel, der uns von einem orthodoxen Glaubenssystem und der Abhängigkeit von fremden Autoritäten zu einer radikalen Offenheit gegenüber der Authentizität der eigenen Erfahrung zurückbringt.
Es handelt sich also um den Wechsel hin zu einem neuen Wahrnehmungsmuster oder einem neuen Kode, mit dem wir die Wirklichkeit entschlüsseln. Es ist ein Wandel von dem Gefühl der Isolation zur Wahrnehmung der Teilhabe, also zu einem Gefühl, ein integrierter Bestandteil von etwas Größerem zu sein. Er ermöglicht uns, auch unsere Erfahrungen in einem neuen Kontext verstehen zu lernen. Es ist wie die Befreiung aus einem Käfig. Er ermöglicht uns, die bislang individuell begrenzten Erfahrungen des eigenen Denkens und Handelns als eine Art Durchfluss in einem größeren System zu verstehen. Diese Sichtweise gibt uns auch ein neues Verständnis für die Qualität unserer Emotionen, sinnlichen Erfahrungen und Gefühle. Individuelles Leiden ist dann untrennbar mit dem größeren Körper verbunden, persönliche Freude auch die Freude des größeren Ganzen. Was wir wahrnehmen, erlaubt es dem größeren System wie der Erde, sich selbst wahrzunehmen. Diese Sichtweise ist geeignet, unserer eigenen ganz persönlichen und einzigartigen Erfahrung einen neuen Wert zu geben, weil sie die eigene Wahrnehmung und Erfahrung in den Dienst des Ganzen stellt.

Wird damit das klassische Bild des Individuums hinfällig oder nur in einen neuen Kontext gestellt?


Eher das zweite. Arthur Köstler hat für die Doppelexistenz des Menschen den Begriff des "Holons" geprägt. Er stellte fest, dass alle lebenden Systeme - ob sie nun organisch wie eine Zelle oder der menschliche Körper sind oder supraorganisch wie eine Gesellschaft oder Ökosysteme sind - Holone sind. Sie haben eine zweifache Wesensart, denn sie sind sowohl selbst Ganzheiten, gleichzeitig aber Teil einer übergeordneten Ganzheit. Lebende Phänomene erscheinen deshalb als Systeme innerhalb anderer Systeme, Felder innerhalb von Feldern, die wie ein Set russischer Babuschka-Puppen ineinander verschachtelt sind, nur dass sie zudem miteinander in vielfältiger Beziehung stehen. Jedes von ihnen repräsentiert eine Organisationsebene, die von der Interaktion der Systeme auf der vorhergegangenen Ebene herrührt: Die Interaktionen von Atomen bilden die Organisationsgrundlage von Molekülen, die Moleküle die Basis von Zellen, Zellen für Organe, Organe für Organismen, Organismen für Gesellschaften usw.. Das Leben ist nach diesem Verständnis in eine hierarchische Struktur aufgeteilt, die jedoch nicht mit hierarchischen Machtstrukturen gleichzusetzen ist, sondern von gegenseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Statt dem konventionellen Herrschaftsbegriff, in dem wir Macht mit Beherrschung oder "Macht über" etwas gleichsetzen, erkennen wir in dem selbstorganisierten organischen Zusammenspiel der vielen Teile in Systemen eine Synergie, für die am besten der Begriff des "Mit-machens" passt. Lebende Systeme entwickeln ihre Anpassungsfähigkeit und Intelligenz darin nicht durch eine Abschottung von der Umwelt und die Errichtung von Abwehrmauern, sondern durch die ständig größer werdende Öffnung für Ströme von Energie, Materie und Information.

Heißt das nicht auch Rückkehr zum Kollektiv?


Im Gegenteil! Es kann nicht mehr darum gehen, Individualität aufzugeben und in die Masse des Kollektivs zurückzukehren. Das größere Ganze besteht nicht aus vielen gleichen, sondern aus vielen ungleichen Teilen. Ein uniformer Monolith hat keine innere Intelligenz. Das dynamische, sich selbst organisierende Ganze lebt von der inneren Vielfalt und Lebendigkeit seiner Teile. Darin liegt das Paradox der Individuation: Je mehr ich werde, was ich bin, desto mehr kann ich zum schöpferischen Teil des Ganzen werden. Das Gemeinsame im Ganzen kann erst lebendig werden, wenn die inneren Unterschiede volle Anerkennung finden. Es geht der Evolution also wohl darum, das wir werden, was wir sind und so unseren Beitrag leisten.

Welche Rolle spielen die Beziehungen zwischen den Individuen in diesem Weltbild?


Die alte Vorstellung von Macht als Ausdruck individueller Kraft und Herrschaft hat dann keine Gültigkeit mehr. Macht ist dann kein Privileg des Individuums mehr oder ein isoliertes Phänomen im Kampf um Vorteile. Macht ist dann vielmehr ein Ausdruck und eine Funktion von Beziehung. Sie entsteht zwischen den kooperierenden Individuen. Der Ort des Wandels liegt in der Interaktion, im Austausch, in der Beziehung zwischen den Individuen. Was wir also brauchen, ist ein Quantensprung in unserer Fähigkeit, miteinander in Beziehung zu treten, zu teilen und zu reagieren. In dem verstärkten Aufbau kooperativer Arbeits- und Lebensstrukturen - die wir dringend brauchen - geht es darum, großzügig mit den eigenen Fähigkeiten und Stärken zu kultivieren und sie mit anderen zu teilen.

Nun sind sich ja die wenigsten Menschen der Folgen bewusst, die das heute noch herrschende Weltbild für den Zustand des Planeten hat. Und die wenigsten werden sich auch bewusst auf ein bestimmtes naturwissenschaftliches Weltbild beziehen. Wie würden sie die ethischen und emotionalen Grundeinstellungen beschreiben, die aus den unterschiedlichen Weltbildern entstehen?


Wenn wir über unsere Beziehung zur Erde sprechen, dann gibt es meines Erachtens drei unterschiedliche Bilder dafür, die schon in den unterschiedlichen spirituellen Tradition vorfinden. Die erste und bis heute vorherrschende Sichtweise sieht die Welt als Schlachtfeld. Diese Sichtweise zieht sich von der alten indischen Bagavadgita über die alten Perser bis ins Amerika der Gegenwart: Immer geht es um den Kampf zwischen guten und bösen Mächten, zwischen den Kräften des Lichts und der Dunkelheit. Die ungebrochene Aktualität dieser Sichtweise macht uns deutlich, dass sie in Zeiten großer Veränderung eine ungebrochene Attraktivität besitzt. Wenn alte Strukturen nicht mehr funktionieren, scheint es sehr reizvoll zu sein, so zu denken. Aber es ist letztlich eine Haltung von religiösen Fundamentalisten.
Die andere verbreitete Sichtweise sieht die Welt als große Falle, in die wir tappen, in der wir gefangen sind und aus der wir uns befreien müssen. Das bedeutet aber, dass wir uns nicht in dieser Welt befreien können, sondern uns irgendwie aus all dem Leiden und den Illusionen herauswinden müssen. Diese Sichtweise zieht sich durch viele Religionen: sowohl den Hinduismus mit seinem Konzept der großen Illusion namens ‚Maya’, als auch das Christentum, das Judentum, den Buddhismus und die ganzen Ansätze des ‚New Age’. Immer steht dahinter das tiefe Bedürfnis, dem Leiden zu entfliehen und sich an irgendeinen inneren oder himmlischen Ort zu retten, der ‚wahrer’, ‚wertvoller’ und ‚freier’ sein soll. Ich glaube, beide Sichtweisen haben zu den Schwierigkeiten beigetragen, vor denen wir heute stehen und sich in Denkstrukturen verfestigt, mit denen wir unsere Welt weiter zerstören.

Welche Alternative zum ‚Schlachtfeld’ und zur ‚Falle’ gibt es?


Ich sehe die Welt als Geliebte und als Teil meiner selbst. Das entspricht den mystischen Traditionen aller Religionen. In den tantrischen Traditionen des Hinduismus und Buddhismus gibt es diesen tiefen erotischen Kontakt zur Welt. Im Christentum sind es Heilige wie Hildegard von Bingen, die den göttlichen Geliebten überall gesehen hat. Wer die Welt so sieht, macht sie wieder heilig. Und um die Welt als Teil meiner Selbst zu erfahren, haben die mystischen Traditionen in aller Welt zahlreiche Methoden entwickelt. Die gilt es wiederzuentdecken. In unserer Zeit kann der tiefenökologische Ansatz uns dabei behilflich sein.

Was verstehen sie unter Tiefenökologie?


Tiefenökologie sieht die Erde als ein lebendes System, in dem alle Dinge miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Tiefenökologie unterscheidet sich von der traditionellen Ökologie dadurch, dass sie über den Anthropozentrismus hinausgeht, der alle ökologischen Probleme immer nur zum Nutzen, zum Vorteil oder zum Profit der Menschen reparieren will. Tiefe Ökologie konzentriert sich statt dessen auf die essentiellen Kreisläufe und Systeme der Natur selbst, um uns selbst dann zum Diener der Gesundheit des größeren Ganzen zu machen. Und das befreit uns dazu, glaube ich, mit mehr Weisheit und Inspiration zu handeln. Dieser Ansatz versorgt uns zudem mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zu unserem Universum. Es bringt uns heraus aus dem Gefühl der Isolation, der Entfremdung und Ausbeutung, hin zu einem Gefühl der Gemeinschaft mit dem lebenden Erdkörper und all seinen Manifestationen. Und das hat einen ganz wichtigen Effekt: Es löst unsere Hilfsbereitschaft und unsere Kreativität aus.

Landet der Mensch da nicht wieder in der Rolle des Machers, diesmal als Retter?


Ich glaube nicht. Ein zentraler Grundgedanke der Tiefenökologie besteht darin, allem einen inneren Wert zuzuerkennen – allen Lebensformen und der Natur selbst als lebendes selbstregulierendes System. All das hat seine innere Schönheit, seine eigene Würde, sein eigenes Existenzrecht. Darin liegt eine verehrende Haltung. Es geht erst mal nicht ums Machen, sondern um die Anerkennung der Tatsache, dass der Regenwald ein Lebensrecht hat und eine wichtige Funktion als Organ im lebenden Erdkörper. Wenn wir das begreifen, empfinden wir Mitgefühl – und das ist die tiefste Form der Liebe und der Verehrung. Gleichzeitig wird uns bei dieser Sichtweise klar, wie eng wir mit diesem Erdkörper verwoben sind, wie er ein Teil von uns und wir ein Teil von ihm sind. In der Tiefenökologie sprechen wir von der Entwicklung unseres ‚ökologischen Selbst’: Wir erfahren uns als wesentliche und einzigartige Bestandteile dieses größeren lebenden Ganzen. Wir sind keine isolierten Macher. Wir stehen vielmehr in einer ganz persönlichen Beziehung zur Welt und können uns davon tragen und unterstützen lassen.

Wie aber entsteht aus dieser fast mystischen Verbundenheit politische Aktion?


Es ist eine Mystik, die in der Aktion deutlich wird, durch zivilen Ungehorsam, Sitzblockaden vor Bulldozern oder durch die Gründung neuer Initiativen. Passieren kann es nur in der Beziehung. Man kann sich nicht ins Kämmerchen zurückziehen und an sich selbst arbeiten. Dieser Prozess braucht die Interaktion mit der Welt. Unsere Erfahrung des Ganzen ist abhängig von den Beziehungen des Einzelnen, das Ganze nur erfahrbar, indem man sich in Beziehung setzt.

Zu Beginn unseres Gesprächs sprachen Sie davon, dass künftige Generationen in eine schwer geschädigten Umwelt leben werden. Wie werden diese Wesen der Zukunft auf uns zurückschauen?


Wenn künftige Generationen auf die letzten Jahre des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken, werden sie wahrscheinlich von ‘Der Zeit des großen Wandels’ sprechen. Denn jetzt, in dieser Zeit, müssen wir den Wandel von einer industriellen Wachstumsgesellschaft zu einer Gesellschaft schaffen, die das Leben langfristig erhält. Das ist eine enorme Veränderung. Sie passiert zur Zeit und wenn diese Veränderung nicht weitergeht, wird das Leben wohl dauerhaft auch nicht weitergehen, weil unser vorherrschender Lebensstil dem widerspricht. Wenn künftige Wesen also zurückblicken, werden sie es mit Respekt tun, mit Mitgefühl und Dankbarkeit, für das, was wir in der ‘Zeit des großen Wandels’ getan haben

Wir scheinen unsere Aufmerksamkeit primär auf die Zerstörung der Welt zu richten. Wo findet dieser ‚große Wandel’ denn heute schon statt?


Ich beobachte die Anzeichen für diesen Wandel auf drei verschiedenen Ebenen, von denen jede äußerst wichtig ist. Die am besten sichtbarste ist die Ebene der Aktionen, die dazu beitragen, die Zerstörung von sozialen und ökologischen Systemen so zu bremsen, dass wir Zeit gewinnen. Das sind die politischen Aktionen, die Demos und Blockaden, die Gesetzesinitiativen, die aktive Einmischung in Bürgerinitiativen und friedlichem Widerstand. Auf dieser Ebene nehmen die Leute die meisten Strafen in Kauf, erreichen die größte Öffentlichkeit und leiden am meisten an dem Gefühl ausgebrannt zu sein. Die meisten Menschen identifizieren sich mit diesen Aktionen. Darin liegt für sie der soziale Wandel und sie glauben, das sei alles.

Aber es reicht, wie wir sehen, nicht aus ....


Man braucht die zweite Ebene, auf der man sich um die strukturellen Wurzeln der Fehlentwicklung kümmert. Welche Institutionen und Machtfaktoren tragen das System und welche Alternativen können eingebracht und ausprobiert werden, um die Samen für eine lebenserhaltende Gesellschaft zu sähen. Das passiert beispielsweise bei all den Initiativen, die sich mit den Mechanismen der Globalisierung auseinandersetzen und nachhaltige gerechte Wirtschaftsmodelle entwickeln.

Aber auch dieser Ansatz reicht für sich nicht aus...


Wir brauchen die dritte grundsätzliche Ebene, auf der wir nach den eigentlichen Motiven der Menschen fragen. Also: Was wollen wir? Wer sind wir? Was brauchen wir? Das ist die Ebene des Bewusstseinswandels, das ist die Ebene, wo wir unsere Wahrnehmung schulen und unsere Bedürfnisse neu formulieren, unser Selbstbild neu bestimmen und unsere Beziehung zur Weltüberdenken und neu gestalten. Da passiert eine Revolution in der Wahrnehmung und im Bewusstsein. All das passiert in einem ungeheurem Tempo.

Das heißt, wir leben sowohl in einer Zeit der Zerstörung und Desintegration, als auch in einer Zeit des Wandels und der Integration?


Ich nenne es ‚positive Desintegration’ Sie passiert immer dann, wenn ein System unter Stress gerät und sich weiterentwickelt. Das passiert mit sozialen Systemen genauso wie mit Denksystemen oder Individuen. Der Begriff beschreibt, was mit einem System passiert, wenn alte Richtlinien, Normen und Werte auf nicht mehr funktionieren und passen. So sind viele der Werte und Ziele der modernen Industriegesellschaft – ‚Je größer desto besser’ oder ‚Wachstum um jeden Preis’ – mittlerweile zur Gefahr für unser Überleben geworden. Wenn solche Grundwerte wertlos werden, geraten wir ins Chaos, fühlen uns verloren, und glauben, es sei nicht zu überleben. Dabei ist das, was stirbt, nur unsere Sicht- und Handlungsweise. Wir leben weiter und finden neue Formen. Positive Desintegration ähnelt also ein bisschen einem Krebs, dessen enger Panzer beim Wachsen aufbricht und Platz für Neues macht.

Wie sollen sich die Menschen in diesem schmerzhaften Prozess verhalten?


Auf dem Weg dorthin scheint es mir wichtig, nicht den Mitmenschen zu predigen, dass sie nobler, tugendvoller, aufopfernder oder verantwortungsvoller gegenüber der Zukunft sein sollten, sondern ihnen stattdessen Mut zu machen, aus ihrer kleinen Kiste auszubrechen. Es ist, als wären wir gefangen in einer Kiste, die immer kleiner wird, uns abtrennt von Vergangenheit und Zukunft, und drinnen sitzen wir wie Ratten und werden immer hektischer. Dafür sind wir nicht gebaut. Je mehr wir unser ökologisches Selbst entdecken, können wir auch Zeit in ihrer ganzen Tiefe erkennen und jene Handlungen wahrnehmen, mit denen wir die Zukunft zerstören. Und diese Erkenntnisse machen Spaß, lassen das Herz höher schlagen, sind aufregend und können endlich den moralischen Zeigefinger ersetzen.

Gibt es Richtlinien, an denen sich der Einzelne orientieren kann?


Ich ermutige die Leute dazu, sich für die Lösung der Probleme ihre eigenen Richtlinien zusammenzustellen. Ich habe ein Paar, die sich als sehr nützlich erwiesen haben. Die erste ist, dankbar dafür zu sein, in einer Zeit zu leben, die so sehr zur Veränderung herausfordert und diesen sinnlichen, fast erotischen Instinkt in uns weckt, das Leben zu erhalten. Der zweite Ratschlag lautet: Hab’ keine Angst vor der Zukunft, die in der Dunkelheit liegt, keine Angst von Ungewissheit, Stress, Verlorenheit, denn all das gehört zu einem einschneidenden Wandel dazu. Alles neue reift zuerst im Dunkeln. Und wir können nicht auf fertige Pläne warten, um den nächsten Schritt zu tun. Der dritte Tipp ist: Ärmel hochkrempeln. Engagiere Dich politisch, verschaff Dir Durchblick, stell’ Fragen nach Ziel und Sinn.! Jeder kann das! Lehn Dich nicht zurück, lass Dich nicht entmutigen oder lähmen. Es gibt so viel zu lernen und zu tun in dieser Zeit. Und viertens würde ich sagen: Habe Mut zur Vision. Wenn wir die Psyche mit einem Muskel vergleichen, dann ist die Vorstellungskraft unser am wenigsten entwickelte Muskel. Wir müssen es uns erlauben, positive Visionen der Zukunft in uns erblühen zu lassen. Denn es wird nichts Neues durch uns in die Welt kommen, was nicht vorher in unserem Bewusstsein Gestalt angenommen hat.

Im Gespräch mit der Ökologin und Kulturforscherin Dolores LaChapelle

Dolores LaChapelle, in der tiefenökologischen Bewegung gelten Sie als jene, die Theorie und Praxis den neuen Ansatzes am besten zusammengebracht haben. Wo liegen die Grenzen der herkömmlichen Ökologie?


Wir stehen schlicht an einer existentiellen Grenze. Die herkömmliche Ökologie verschließt davor die Augen. Sie geht davon aus, dass es für jedes Problem eine technologische Lösung gibt, durch die das ganze System am Laufen gehalten werden kann. Letztlich beruht das auf dem Glaubenssatz, dass wir mit der Welt machen können, was wir wollen, weil es immer jemanden geben wird, der die Schäden reparieren kann. Tatsache ist, dass es diese Lösungen nicht gibt. Wir haben immer weniger Humus, wir haben keine saubere Luft mehr und das Wasser ist immer öfter so schmutzig, das Fische aussterben. Es gibt keinen Weg all das zu reparieren.

Wo liegen die Wurzeln der Fehlentwicklung?


Manche sind der Meinung, dass es mit dem Beginn der Landwirtschaft passierte. Das ist 10.000 Jahre her. Aber während 99% der Geschichte der Menschheit waren wir Jäger und Sammler. Nur während einem Prozent dieser Zeit waren wir sesshafte Bauern. Als Jäger und Sammler mussten die Menschen im Einklang mit dem Ort leben, und sie fanden die Balance zwischen sich und der Natur. Sie wussten beispielsweise: Wenn ihre Geburtenrate steigt, dann ist nicht genug für alle da. Also überwachten sie ihren Bevölkerungszuwachs. All diese Kulturen praktizierten Empfängnisverhütung und schufen so ein Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und den zur Verfügung stehenden Ressourcen. Unter diesem Gesichtspunkt wird klar, dass die Landwirtschaft vielleicht gar nicht der große Fortschritt war, für den sie viele halten.

Über welches Wissen verfügten die traditionellen Kulturen also, um ihre Gesellschaften weitgehend nachhaltig zu gestalten?


Diese Menschen sahen die Natur als ein Geschenk. Alles was sie von ihr erhielten, wurde als Gabe wahrgenommen. Sie forderten nichts von der Natur und sie entrissen der Natur nichts. Aber mit dem Beginn der Landwirtschaft setzte sich die Idee durch, dass der Mensch die Natur zwingen darf, ihm mehr und immer mehr zu geben. Das war der Grundimpuls für die Überbevölkerung vor der wir heute stehen. Denn weil dafür mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, wuchsen die Familien. Mehr Menschen brauchten dann wieder mehr Nahrungsmittel – und so drehte sich die Spirale immer weiter nach oben.

Wie wurde von unseren Urahnen das Verhältnis zur Natur wahrgenommen?


Die meisten Stammesgesellschaften bauten auf die Überzeugung, dass man dem Land immer etwas zurückzugeben hatte. Solange das geschah, gab die Natur immer genug. Aber es ging um das geben, nicht um das Nehmen. Man könnte das, was vor der Einführung der Landwirtschaft praktiziert wurde, ein System des wechselseitigen Austauschs von Geschenken zwischen Mensch und Natur nennen. Die Landwirtschaft zerstörte dieses ausgeglichene Beziehungsmuster zwischen Mensch und Natur. Von da an verschlechterte sich die Situation für die Natur.

Und doch kann die Lösung nicht darin bestehen, in die Strukturen der Stammesgesellschaften zurückzukehren?


Aber der wesentliche Punkt ist: Wir sind immer noch die selben menschlichen Wesen. Die Leute sagen immer: Es gibt keinen Weg zurück und es muss immer vorwärts gehen. Aber seit mindestens 500.0000 Jahren sind wir die selbe Gattung Mensch. Da liegt unsere wirkliche Natur. Wir müssen nicht zurückgehen, sondern das wirkliche Menschsein wiederentdecken. Und da sind die Bedürfnisse gleich geblieben. Das sieht man schon daran, dass die adligen Schichten in der Feudalzeit ebenso wie die reichen Schichten der Neuzeit es als besonderen Luxus verstanden, was die Jägerkulturen der Urzeit den ganzen Tag taten: Angeln, Jagen, Kommunikation, Tanz und Musik. Das ist es, was der Mensch braucht. Und es ist genau das, was der Mensch schon seit Urzeiten getan hat, lange bevor all diese Probleme auftauchten.

Was bedeutet das für unser Verständnis von Ökologie?


Es gibt zwei Arten von Ökologie. Die eine ist die oberflächliche Ökologie. Sie besteht daraus, dass die entwickelten Länder für ihre Bürger die Luft und das Wasser sauberer machen. Die dritte Welt hatte doch nie die Chance, sich so weit zu entwickeln, dass sie ihre Luft, Gewässer und Böden wieder sauber machen konnten. Das Leiden der Dritten Welt besteht ja gerade in den weltweiten Exzessen der entwickelten Welt. In der sogenannten tiefen Ökologie aber stellen wir die Frage, ob die Gesellschaften der Gegenwart die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen - Liebe, Sicherheit, Zugang zur Natur. Wir fragen weiter, welche Gesellschaft, welches Erziehungsmodell ist nützlich für das Leben auf dem Planeten als Ganzes. Und dann fragen wir danach, was getan werden muss, um die nötigen Veränderungen in Gang zu bringen. Insofern formuliert die Tiefenökologie besonders das, was eigentlich in und für die Dritte Welt getan werden müsste: Es geht um einen ganz grundlegenden Wandel.

Also zuallererst um einen Wandel in unserem Denken?


Der Mensch ist der Natur nicht überlegen. Er ist vielmehr nur ein Element in der überlegenen Aktivität des gesamten Lebensnetzes. Wir sind nicht diejenigen, die auf diesem Planeten das Wissen und die Weisheit gepachtet haben. Die wirkliche Weisheit liegt in der Natur. Diese Weisheit hat wenig mit Philosophie oder Politik zu tun. Philosophie heißt wörtlich ‚Liebe zur Weisheit’. Doch unsere philosophische Erkenntnis ist weitgehend ein Hirngespinst. Die alten Griechen haben sich enorme Gedanken gemacht, sie aufgeschrieben und immer weiter entwickelt, aber sie haben dabei kaum, so wie Stammesgesellschaften, von der Natur gelernt. Für Jäger und Sammler hingegen bestand das Leben ganz selbstverständlich aus einem fortwährenden Lernprozess mit weit offenen Sinnen.

Kann aus so einer Sichtweise eine Art tiefenökologischer Politik entstehen?


Politik ist aus meiner Sicht eher ein Teil des Problems, anstatt die Lösung. Die grünen Parteien haben die Tiefenökologie bislang abgelehnt, weil sie im bestehenden System mitmachen wollen. Tiefenökologie scheint als Programm politisch nur sehr beschränkt möglich zu sein. Denn mit diesen Ideen ist man für die Mehrheit nicht wählbar. Wenn es also weder ein philosophischer noch ein politischer Ansatz ist, was ist es dann? Ich würde sagen: Es ist eine Art und Weise, auf die Welt zu schauen und dabei festzustellen, dass die Probleme und ihre Lösungen weit tiefer sind, als wir bislang dachten. Man kann sie nicht nur über politische Maßnahmen lösen. Denn politische Maßnahmen bedeuten immer weitgehende Kompromisse mit den bestehenden Strukturen. Machen wir die, wird sich die Lage aber weiter verschlimmern. Also muss die Weg aus der Krise anders sein als alle bisherigen Ansätze.

Welchen Weg sehen Sie dann?


Ich glaube das die Lösung in dem besteht, was wir Bioregionalismus nennen – einer radikalen Dezentralisierung. Menschliche und kulturelle Entwicklung ist gerade in den Stammesgesellschaften immer aus der Aufmerksamkeit für den Ort entstanden, an dem die Menschen lebten. Was kann das für uns heute bedeuten? Es heißt durchaus, weiter seine Steuern zu zahlen. Aber es bedeutet auch, den Zentralregierungen deutlich weniger Macht und Aufmerksamkeit zu geben. Statt dessen müssen wir für das aufmerksam werden, was unser jeweiliger Lebensort von uns braucht, um sich weiter entwickeln zu können: das Land, die Böden, die Bäume. Das wäre die Grundbedingung dafür, dass die Dinge besser werden anstatt immer schlimmer. Aber das kann man nicht im großen Maßstab von oben verordnen. Man kann das nicht nach hierarchischen Prinzipien durchsetzen, weil jeder platz verschieden ist. Deshalb ist Tiefenökologie für mich ein Ansatz, der versucht uns dabei zu helfen, endlich zu lernen, was die Bedürfnisse des Landes sind und dann entsprechend zu reagieren.

Steckt das hinter dem Slogan: ‚Lokal handeln, global denken’?


Dieser Slogan hat einen gewaltigen Haken. Den meisten modernen Menschen wäre die sogenannte ‚eine Welt’ am liebsten, vollkommen gleichgeschaltet und homogen. Ganz so, wie es sich die multinationalen Konzerne wünschen. Aber das wird uns nicht weiterbringen. Der Grund dafür, dass ich das so arrogant sagen kann, liegt in folgende unumstößlicher Tatsache: Menschliche Wesen sind Säugetiere. Und ein Säugetier kann nur eine tiefe Beziehung aufbauen zu etwas, mit dem es direkt konfrontiert ist. Ein Säugetier kann nicht wirklich über den Planeten reden, weil es den Planet nicht sieht. Diese schönen Slogan von der „Einen Welt“ wird nicht funktionieren. Ein Säugetier muss den Ort, über den es läuft, sehen, um sich darum zu kümmern. Die künstliche Idee, dass wir die Erde lieben müssen, ist nur ein weiteres Hirngespinst. Wir können die Erde nicht lieben. Was wir lieben können, ist unser Platz auf dieser Erde. Lebendig zu sein heißt seit dem Beginn der Menschheit, in völliger Aufmerksamkeit mit dem eigenen Platz verbunden zu sein. Dann wird das Land heilig und wir spüren die Dankbarkeit für die Fülle des Ortes, der uns am Leben hält und von dem wir ein Teil sind. „Wildheit“, sagt der Poet Gary Snyder, „ist eine Zustand völliger Aufmerksamkeit“. Das ist es, was wir brauchen!

Aber ist nicht gerade in vielen traditionellen Kulturen die ‚Mutter Erde’ der wesentliche Bezugspunkt?


Mit diesem Begriff von ‚Mutter Erde’ ist es dasselbe. Wir meinen, dass alle traditionellen Kulturen diese Vorstellung einer großen Erdmutter gehabt hätten. Aber das ist Unsinn. Es gab viele verschiedene ‚Göttinnenfiguren’ oder wie immer man sie nennen mag, für den Platz, an dem die Menschen lebten. Und dieser Platz war in Hawaii natürlich ganz anders, als an der amerikanischen Nordwest-Küste. Deshalb war die Göttin hier ein Vulkan und dort ein Lachs. Sie war ‚Mutter’, kein Frage, aber nicht ‚Mutter Erde’.

Gleichzeitig wird durch die modernen Transport- und Kommunikationsmittel die Welt immer mehr zu einem globalen Dorf ...


Aber ein Großteil der Probleme hängt gerade damit zusammen, dass wir in dieser immer mobileren Gesellschaft nicht mehr lange genug an einem Platz bleiben, um spüren zu lernen, was dieser Platz eigentlich wirklich von uns braucht. Was die Natur also jetzt braucht, ist, dass wir herausgehen und mit ihr arbeiten. Und das heißt: Arbeite an dem Platz, an dem Du lebst. Reise herum, bis Du einen Platz findest, den Du so liebst, dass du bereit bist, für ihn zu sterben. Dort beginnst Du, die politischen Kämpfe auszutragen, die dieser Platz braucht. Lasse Dich nieder - nur so lernst Du, was dein Platz braucht.

Wie wissen wir, was der Platz braucht?


Wir müssen viel verlernen von dem, was wir für so wichtig halten. Und das geht nur, wenn wir unseren Platz finden. Wenn wir uns dort verwurzeln, die lokalen Nahrungsmittel essen, aufmerksam den dort lebenden Menschen zuhören und das nicht-menschliche Leben beobachten, dann erst können wir herausfinden, was dort zu tun ist. Und dann entstehen von alleine die notwendigen Rituale und Ideen.

Heißt das, ein Großteil der konventionellen Umweltpolitik ist für die Katz?


Wir schmieden dauernd Pläne. In den letzten 40 Jahren sind mehr Pläne zum Schutz der Natur entwickelt worden, als in der ganzen Geschichte der Menschheit. Sie haben uns nichts gebracht, weil diese Pläne Hirngespinste sind. Was die Natur von uns verlangt ist, ist nicht in neuer Form über sie zu bestimmen, sondern endlich mit ihr zu kooperieren. Und das heißt wiederum: Geh zurück an Deinen Platz und tue was zu tun ist.

Im Mittelpunkt ihrer Schriften steht das, was Sie ‚binding back’ nennen. Was verstehen Sie unter dieser ‚Rückbindung’?


Das Gefühl für das, was fließt, gewinnen wir in der Bewegung. Die Rückbindung geschieht im Ritual. Rückbindung kann geschehen beim Klettern, beim Skilaufen, durch gemeinsame Erfahrung in der Natur, in vielen Handlungen. Ich habe in meinem Leben das Ritual nicht gesucht. Es war da, bevor ich den Begriff kannte und war dadurch gekennzeichnet, das Alles zu enthalten, es zu begreifen, keiner Erklärung zu bedürfen und Himmel, Erde und Menschen in der Gegenwart zu verbinden. Es gibt keine derartigen Rituale in der wachstumsversessenen Industriekultur der Gegenwart. Ich habe damit begonnen, kleine Rituale zu entwickeln. Von der Beobachtung des Mondaufgangs, Feiern den Vollmonds über nächtliche Trancetänze bis zum Tai Chi. Wildheit - dieser Zustand absoluter Wachheit - hat nicht mit den verrückten und destruktiven Handlungen zu tun, mit denen die unterdrückten Menschen der modernen Zivilisation einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Die Unterdrückung, die wir uns antun, kommt vom dualistischen Denken, wo hier das Gesetz und dort die Wildheit ist. Wirkliche Wildheit ist anders: Sie enthält die höhere Ordnung aller Wesenheiten eines Platzes, die alle ihre ganze Natur so verwirklichen, dass das gesamte Ökosystem und der Platz als Ganzes blüht.

Wie kamen Sie auf die Tiefenökologie?


Während all dieser Jahre des Lernens hatte ich nie einen Namen für das, was mir passierte. Es schien mir wie eine schrittweise Vertiefung in etwas, wofür die europäische Kultur keine Worte hatte. Bis ich 1977, auf dem Earth Festival in Kalifornien auf Arne Naess stieß. Er sagt: „Die tiefe Ökologie stellt die Frage, ob die Gesellschaften der Gegenwart die menschlichen Grundbedürfnisse erfüllen: Liebe, Sicherheit, Zugang zur Natur. Wir müssen fragen, welche Gesellschaft, welches Erziehungsmodell ist nützlich für das Leben auf dem Planeten als Ganzes. Und wir müssen fragen, was getan werden muss, um die nötigen Veränderungen in Gang zu bringen.“ Was er auf dem Gebiet der Philosophie geleistet hat, holte James Hillman für die Psychologie nach, als er sagte, dass wir uns nicht mehr mit dem Individuum, sondern mit der Seele des Ganzen beschäftigen sollten. Statt „Ich denke, also bin ich“ gilt ihm „Ich bin, weil ich teilhabe an der Welt, ihren Mustern, Menschen, Tieren, Bäumen“. Die neuen Konzepte des Selbst sind schwer zu begreifen, sie sprengen den Rahmen dessen, was wir für wahr nehmen. Mein Weg des erkennens war ganz anders: Mich haben es Pulverschnee, Himmel und Berge gelehrt.

Wie kann einem das Skifahren solche Einsichten vermitteln?


Das Fahren im Pulverschnee ermöglicht die absolute Erfahrung der dynamischen Beziehungsmuster zwischen den Mitgliedern einer Gruppe von Menschen, der Energie der Erdanziehung und dem Schnee als Ausdruck des Himmels. Anpassung an die Natur hat nichts damit gemein, sich einem menschengemachten Gesetz zu unterwerfen, das Deine Freiheit beschneidet. Wirkliche Anpassung an die Natur hat viel mehr gemein mit einer gemeinsamen Abfahrt. Für jeden erfahrenen Skiläufer gibt es nur einen besten „Weg“: für jede mögliche Position am Hang gibt es nur eine Fall-Linie. Fahren mehrere miteinander, so können alle mit Höchstgeschwindigkeit abfahren und doch miteinander und mit der Erde fließen. Es ist wie beim Flug der Vögel, die durch die Lüfte kreisen, keiner ist Führer, es gibt keine Untertanen, denn alle sind zusammen. Die einen passen sich responsiv der Erde, die anderen dem Himmel ihrer Welt an, es gibt keine Zusammenstöße. Hier ist jedes menschliche Sein auf seinem eigenen Pfad frei.

Also geht es um einen Zustand absoluter Achtsamkeit?


So kann man das nennen. Die Bewegungen sind minimal, nur die Knie geben nach, reagieren auf den leichten Druck des Schnees. Es ist eine Mischung aus Fliegen und Landen, es hebt und zieht mich, ich gebe der Gravitation nach, geh in die Fersen, spüre, wie der Schnee mich wieder hebt und lenke die Spitzen ein Stück nach links. Die Schwünge sind völlig fließend, denn da ist kein bewusstes Tun, kein Denken. Du siehst es an der Spur im Schnee. Es ist Seligkeit, pure Seligkeit. Es ist ein besonderes Geschenk der Beziehung zwischen Himmel und Erde. Es lässt sich nur erleben an Plätzen, wo alle Bedingungen stimmen, es passiert in besonderen Momenten auf dieser Erde, es dauert manchmal nur Augenblicke, bis das Licht sich verändert und der Wind dreht. Manche Menschen widmen dieser Erfahrung, das Sein im reinen Spiel zu erleben, die besten Jahre ihres Lebens. Um es richtig zu machen, musst Du dich dem Schnee hingeben.

Demnach gibt es zahllose Wege zur Erkenntnis?


Sicherlich. Alles was heute ich weiß, habe ich dabei gelernt, die Hänge heraufzusteigen und herunterzugleiten. Wer in tiefem Pulverschnee Ski läuft, trifft auf keinen Widerstand, trifft auf rein gar nichts. Da ist nicht irgendwas, von dem man sich abstößt, um sich zu drehen, wie beim normalen Skifahren. Wer darauf besteht, sich dort abzustoßen, wo nichts ist, setzt nur den Impuls seiner Bewegung fort und fällt in den bodenlosen Schnee. In unserer Kultur gibt es kein Wort für diese Erfahrung des „Nichts“, für den fehlenden Widerstands beim Tiefschneefahren. Im Gegenteil: Die Vorstellung des Nichts, des Nicht-Seins macht uns Angst. Nur in der Lehre des Taoismus gibt es „die Fülle der Leere“, aus der alles entsteht. Meine Erfahrungen im Pulverschnee gaben mir eine Ahnung dessen, was meinem Denken vorher nicht zugänglich war.

Wie kann eine solche Erfahrung das Bewusstsein oder gar das Weltbild verändern?


Wenn erst einmal dieser Rhythmus zwischen Schnee und Gravitation entstanden ist, hört das „Ich“, der „Berg“ und der „Schnee“ auf, getrennt voneinander zu existieren. Es fließt zusammen in einen einzigen Strom der Interaktion. Ein fließender Prozess ohne Grenzen. Mein Handeln bildet ein Kontinuum mit der Handlung des Schnees und des Berges. Ich kann nicht mehr genau sagen, wo mein Handeln aufhört und das des Schnees beginnt und wann die Gravitation hereinspielt. Je öfter Du das erlebst, desto mehr verliebst Du Dich darin. Und Du lernst, wie schnell Du diese komplexe Interaktion zerstörst, sobald Du bewusst planst, forderst und deinen Willen durchsetzen willst. Wer einmal diesen Verlust aller Grenzen des Egos erlebt hat, macht einen radikalen Bewusstseinswandel durch, der sich nach und nach ausdehnt und vertieft. Wir sind das Opfer einer Einbildung, hat Allan Watts gesagt, wenn wir an das Paradigma unserer Kultur glauben, dass unser Individuum dort aufhört, wo unsere Haut endet: Dann kommen wir zu einer Wahrnehmung des Individuums, dass weder als Ego in seiner Haut eingeschlossen ist, noch das Zahnrad einer großen Maschine ist, sondern dass es ein sich dabei um einen gegenseitig beeinflussender Prozess ist zwischen allem, was innerhalb und außerhalb der Hauthülle passiert handelt, ohne Dominanz des einen oder anderen, gleichberechtigt, wie zwei Seiten einer Münze.

Arne Naess nennt diese Erfahrung das ‚ökologische Selbst’ . Ist da noch klar spürbar, was wir den ‚menschlichen Geist’ nennen?


Wenn das Individuum aus der Begegnung und Beziehung der inneren und der äußeren Welt besteht, was ist dann Geist? Gregory Bateson hat gesagt, das der Geist, mit dem wir die Informationen verarbeiten, nicht auf den Körper beschränkt ist, auf jenes System, dass wir gewöhnlich das „Selbst“ nennen. Vielmehr schließt diese Information, die das Selbst verarbeitet, alle Wege ein, diese Information gegangen ist: Der Weg durch andere Gehirne, durch Licht, Klang, Temperatur und alle anderen Aspekte zwischen Himmel und Erde. Das Individuum, was wir das Selbst nennen, wählt aus der Fülle der Informationseinheiten das aus, was es gerade braucht und zieht künstliche, fiktive Grenzen zwischen Mensch und Umwelt. Was denkt, ist das ganze System, das sich mit Versuch und Irrtum beschäftigt, mit dem Menschen und der Umwelt. Arne Naess meint nichts anderes, wenn er vom „ökologischen Selbst“ spricht. Die kleinen Welten, die wir uns schaffen, sind kleine Kreisläufe eines größeren Kreislaufes, wie Schubladen eines viel größeren Schrankes. Der eigentliche Kreislauf ist der des Ökosystems, wo Du nicht mehr trennst zwischen Input und Output, sondern Teilnehmer des ganzen Geschehens bist. Je größer die Hingabe an den großen Kreislauf, je größer die Ganzheit der Erfahrung, je mehr Wissen und Bewusstheit für alle beteiligten Faktoren, desto größer die Freiheit.

Braucht es für diese fast spirituelle Erfahrung eine Arbeit am menschlichen Bewusstsein?


Das war doch schon immer ein Teil von uns. Wir brauchen nicht unser Bewusstsein zu verändern, wir müssen vielmehr vieles von dem, was wir in den letzten 2000 Jahren gelernt haben, wieder verlernen. Die wirkliche Bedeutung des Wortes Religion, lateinisch "religio", heißt "Rückbindung". Religiös sind wir seit den Zeiten der Höhlenmalerei. Wir waren uns immer bewusst über diesen endlosen Strom von Leben, der durch uns und die Erde von Anfang an fließt. Dass es auf der einen Seite etwas Spirituelles gibt und auf der anderen Seite etwas Materiell-Natürliches, ist eine Falle des westlichen Denkens. Spirituelles und Materielles sind beides Teile eines endlosen Kreises. Und im Westen wird die Energie, die durch die Welt fließt, mit der Bezeichnung "spirituell" versehen. Andere Kulturen machen diese Unterscheidung einfach nicht.

Das klingt nach so wenig Anstrengung, dass mir der Begriff des ‚Spiels’ in den Sinn kommt ...


Leben muss zu einem Spiel zwischen Dir und diesen Kräften werden, dort wo Du lebst. Einsicht und Ort muss sich in Gegenseitigkeit entfalten, gemeinsam wachsen und voneinander lernen. Ich würde das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als einen Prozess der gegenseitigen Zweckbindung (reciprocal appropriation) nennen. In so einer Beziehung gibt es keine Trennung mehr zwischen Arbeit und Spiel, Dingen, die man für sich tun oder Dingen, die man für die Welt tun. Alles wird zum einem Spiel im Spiegel dieser Ganzheit. Je tiefer wir uns einlassen, desto mehr lernen wir. Je mehr wir lernen, desto tiefer lassen wir uns ein. Bis es zu einem fließenden Etwas wird zwischen Dir und dem Platz an dem Du lebst, nicht einmal länger beschränkt durch die Zeit. Denn die Zuwendung zur Erde dehnt sich aus in die Zukunft als ein Teil der dort wohnenden Liebe.

Sie haben in all den letzten Jahren einen entsprechenden Erfahrungsprozess angeboten, den sie ‚Breaking through’ nennen. Ein Durchbruch wohin?


Wir gehen mit diesen ganz normalen Menschen raus. Wir üben das Klettern an kleinen Felsen, damit sie die Angst verlieren. Dann setzen wir sie zwei Tage lang in Wildwasserflöße. Dort lernen sie das Zusammenhalten, wenn sie nicht über Bord gehen wollen. Und dann gehen wir ins Hochgebirge. Dort haben sie Angst. Aber die Gruppe unterstützt sie – und sie machen Sachen, die sie nie zu träumen wagten. Und sie kommen verändert zurück. Es sind die Berge und der Fluss, die diese Arbeit machen, nicht wir. Das klingt verrückt, aber es ist wahr. Wir gehen mit diesen ganz normalen Menschen raus. Wir über das Klettern an kleinen Felsen, damit sie die Angst verlieren. Dann setzen wir sie zwei Tage lang in Wildwasserflöße. Dort lernen sie das Zusammenhalten, wenn sie nicht über Bord gehen wollen. Und dann gehen wir ins Hochgebirge. Dort haben sie Angst. Aber die Gruppe unterstützt sie – und sie machen Sachen, die sie nie zu träumen wagten. Und sie kommen verändert zurück. Es sind die Berge und der Fluss, die diese Arbeit machen, nicht wir. Das klingt verrückt, aber es ist wahr. Durch die Intensität der Erfahrung können sich Menschen in sieben Tagen sehr verändern. Sie stellen nicht ihr Leben auf den Kopf, aber sie beginnen, aufmerksam zu werden

Der Kern ist also Achtsamkeit ... ?


Wenn wir darauf bestehen, arrogant damit fortzufahren, in der engen, auf den Menschen fixierten Welt der modernen Kultur zu leben, dann werden wir nicht nur die Vielfalt der irdischen Lebewesen vernichten, sondern auch das Wasser und die Luft, von denen unser Leben abhängt. Wenn wir aber bei jedem Schritt unseres Lebens achtsam sind für die Erde, den Himmel, die Götter, dann ist die Zerstörung zu Ende.

Zur Person Dolores LaChapelle


Der kulturelle Panzer, der uns von der Mitwelt trennt, ist dünner, als wir annehmen. Und die Erfahrung des tiefen Verschmelzens und Eins-Sein mit der Welt liegt viel näher, als wir meinen. Dolores LaChapelle, in den USA längst ein Mythos und bekannt als moderne Schamanin, Bergsteigerin und Extremskilauferin hat in ihrem über 70jährigen Leben jede Möglichkeit gesucht, sich der Natur hinzugeben und diese Hingabe zu lehren. Dolores LaChapelle lebt, lehrt, tanzt und arbeitet im „Way of the Mountain Learning Center“ in fast 3000 Meter Höhe. Im Sommer leitet sie zweiwöchige Intensivkurse zu Gemeinschaftsbildung, Klettern, Rafting, daß sie „Breaking Through“ nennt.